Bedenklich an der Singularitätsdiskussion insgesamt und den mit ihr verbundenen Wertungen ist im übrigen, daß sie dazu tendiert, Rangordnungen des Verbrechens herzustellen, die es ermöglichen, in einer Verbrechensdimension, die ohnehin jede Individualkriminalität weit in den Schatten stellt, das "Schlimme" vom "noch Schlimmeren" und das "noch Sagbare" vom "Unsäglichen" zu unterscheiden. Die Gefahr der Relativierung, die befürchtet wird, wenn der Völkermord an den Juden mit anderen Massentötungen der Geschichte verglichen wird, besteht schließlich nicht nur in diesem Fall, sondern ist eine ganz allgemeine. Denn jede Abstufung führt, in welcher Richtung auch immer, zu Abwägungen, bei denen einem Ereignis nur auf Kosten anderer Ereignisse sein volles Gewicht beigemessen wird. Die herausgehobene Einzigartigkeit eines und sei es noch so ungeheuerlichen Verbrechenskomplexes, die nicht durch klare und eindeutige Kriterien, etwa Aussagen über das Ausmaß und den Umfang seiner Auswirkungen, legitimiert werden kann, wird so zwangsläufig mit der Verharmlosung anderer Verbrechen erkauft. Die Konsequenzen derartiger Abstufungen müssen daher auf jeden Fall mitdiskutiert werden. Diese dürfen beispielsweise nicht zu dem Schluss verleiten, Massenverbrechen in Kriegen seien zu vernachlässigende Verbrechen zweiten Ranges. Der Blick auf die Vielfalt staatlicher Verbrechen muß also wohl ausgehalten werden, ohne daß dadurch das Unrecht der Einzelereignisse gemindert wird. Überhaupt müssen wir uns fragen, wie es eigentlich dazu kommt, daß wir von dem Hinweis auf andere Verbrechen eine Verharmlosung und Relativierung des ja in seiner kriminellen Größenordnung und Bedeutung feststehenden Völkermordes befürchten. Offenbar verfangen wir uns allzu leicht in Denkschemata, die das Stigma schwersten Unrechts und größter Verwerflichkeit nur dem Ausnahmeverhalten zuteil werden lassen. [Hervorheb. boers.]
[H. Jäger: Über die Vergleichbarkeit staatlicher Großverbrechen. In: E. Hesse (Hrsg.) Totalitarismus im 20. Jahrhundert - Eine Bilanz der internationalen Forschung (1999), S. 384 ff.]
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