Wie Inkompetenz an die Macht kommt oder: Die Eule die Gott war Veröffentlicht am 21. November 2013 von Irene Pollak
In einer sternlosen Nacht saß einmal eine Eule auf einem Eichbaum. Zwei Maulwürfe versuchten, unbemerkt vorbei zu schlüpfen. „Du!“ rief die Eule. „Wer?“ quiekten sie angstvoll und erstaunt, denn sie konnten gar nicht glauben, dass irgendjemand imstande sei, sie in dieser Finsternis zu sehen. „Du und du“, sagte die Eule. Die Maulwürfe liefen davon und erzählten den anderen Geschöpfen in Feld und Wald, die Eule sei das weiseste aller Tiere, denn sie könne im Dunkeln sehen und gebe auf jede Frage die richtige Antwort.
„Das werde ich mal nachprüfen“, meinte ein Kranichgeier, und eines Nachts, als es wieder sehr finster war, stattete er der Eule einen Besuch ab. „Habe ich jetzt die Augen offen, oder mache ich sie zu?“ fragte der Kranichgeier. „Zu“, sagte die Eule, und das stimmte.
„Wissen Sie, wie „wem“ auf lateinisch heißt?“ setzte der Kranichgeier das Examen fort.
„Cui“, erwiderte die Eule.
Der Kranichgeier versuchte es ein drittes Mal. „Wie ist der Name der südafrikanischen Antilope?“ „Gnu“, ließ sich die Eule vernehmen.
Der Kranichgeier eilte zu den anderen Geschöpfen zurück und berichtete, die Eule sei in der Tat das weiseste aller Tiere, denn sie könne im Dunkeln sehen und gebe auf jede Frage die richtige Antwort.
„Kann sie auch bei Tag sehen?“ erkundigte sich ein Rotfuchs. „Ja“, echoten eine Haselmaus und ein Zwergpudel, „kann sie auch bei Tag sehen?“ Diese törichte Frage reizte die anderen Geschöpfe zu lautem Lachen. Sie fielen über den Rotfuchs und seine Freunde her und vertrieben sie aus der Gegend. Dann schickten sie einen Abgesandten zu der Eule und ließen ihn bitten, ihr Führer zu werden. Als die Eule bei den Tieren erschien, war es zwölf Uhr mittags, und die Sonne schien hell. Sie schritt sehr langsam einher, was ihr einen überaus würdigen Anstrich verlieh, und sie starrte mit ihren großen Glotzaugen um sich, was ihr ein ungemein bedeutendes Aussehen gab.
„Sie ist Gott!“ kreischte eine große Legehenne. Und die anderen Tiere stimmten begeistert in den Ruf ein. „Sie ist Gott“, jubelten alle. Sie folgten ihr, wohin sie auch ging, und wenn sie an etwas anstieß, dann stießen sie auch an. Als sie eine Autostraße erreichte, wanderte sie auf ihr weiter, und alle ihre Anhänger folgten ihr. Ein Falke, der die Vorhut übernommen hatte, entdeckte plötzlich, dass ein Lastkraftwagen mit großer Geschwindigkeit auf sie zukam. Er meldete es dem Kranichgeier, und der meldete es der Eule. „Es droht Gefahr“, krächzte der Kranichgeier. „Cui?“ fragte die Eule. Der Kranichgeier teilte es ihr mit und fügte hinzu: „Fürchtest du dich denn nicht?“ „Puh“, sagte die Eule ruhig, denn sie konnte den Lastkraftwagen nicht sehen. „Sie ist Gott“, schrien alle Geschöpfe, und sie schrien noch immer: „Sie ist Gott!“, als der Lastkraftwagen heranbrauste und sie überfuhr. Einige Tiere wurden nur verletzt, aber die meisten, darunter die Eule, kamen ums Leben.
James Thurbers, The Owl who was god (Die Eule, die Gott war, The New Yorker , 1939)
Die Moral aus der Geschicht: Gekonnte Kommunikation ist alles.
|