Er hat die Türkei zu einem Land gemacht, das nur seine Meinung toleriert. Das nennt er Demokratie. Die Jugend fühlt sich wie im Gefängnis. Das bringt eine junge Deutsch-Türkin auf die Palme.
Offener Brief keine urheberrechtsverletzung o vollpostregelung!
Lieber Recep Tayyip Erdogan, während Sie sich am heutigen Sonntag keine Sorgen machen müssen, denn Sie wissen längst, dass Sie mit absoluter Mehrheit Staatspräsident der Türkei werden, mache ich mir seit Langem Sorgen um die Zukunft meines Landes. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es jungen Menschen wirklich geht?
In einem Land leben zu müssen, in dem man nur in westlichen, liberalen Vierteln als unverheiratete Person eine Wohnung findet, weil entweder konservative Vermieter keine Wohnung an Singles vergeben wollen oder die Nachbarn sich daran stören könnten, dass man Besuch vom anderen Geschlecht erhalten könnte, das stößt mich ab.
Dann sprechen Sie sich sogar öffentlich gegen gemischte Studenten-Wohngemeinschaften aus und fragen: "Wissen wir überhaupt, was dort passiert?" Haben Sie sich je gefragt, was in den Wohnungen passiert, in denen jährlich Zehntausende Kinderbräute ihre erste Nacht verbringen müssen?
Ich und meine Freundinnen und Freunde verdienen eine freie und demokratische Türkei. Sie aber gefährden die Ideale der modernen Türkinnen und Türken, indem Sie uns immer wieder Ihre eigene konservative Lebensform mit autoritären Methoden aufzwingen wollen.
Sie beschimpfen Bürger als "Besoffene"
Gipfel der Lächerlichkeit: Ihr Vize sieht es nicht gern, wenn Frauen in der Öffentlichkeit laut lachen. Sie, Herr Erdogan, beschimpfen die Bürger als "Besoffene" und wollen den Alkoholkonsum, so weit es geht, einschränken. Und Sie raten neuerdings jungen Frauen, "nicht allzu wählerisch" bei der Entscheidung über ihren potenziellen Ehegatten zu sein. Leben wir im gleichen Land?
Meine Freunde, Arbeitskollegen und Verwandten, ob in Istanbul oder in Anatolien, wollen eine andere Türkei. Sie wollen nicht studieren, um dann wie Sklaven fünfzig Stunden in der Woche für einen Hungerlohn zu arbeiten. Sie wollen nicht ihr bisschen Geld in den von Ihnen gebauten Einkaufszentren lassen und sich auch noch hoch verschulden.
Junge Türken möchten nicht im Gefängnis engstirniger, religiöser Regeln leben, die ihnen viel zu lange von der Familie, der türkischen Gesellschaft und Ihnen aufgezwungen worden sind.
Wir haben das Recht, gegen unsere Eltern und auch gegen Sie zu rebellieren. Jugend sucht immer eigene Wege und sucht auch Streit und Auseinandersetzung. Geben Sie uns aber Argumente? Nein, Sie diktieren, Sie verbieten, Sie kriminalisieren. Autorität aber muss begründet sein.
Hier wird man vom Tränengas high
Und ich kann mich nicht einmal richtig wehren. Darf nicht auf der Straße friedlich gegen Sie oder Ihre Partei, die AKP, demonstrieren, ohne von Tränengas high zu werden und um schließlich, umzingelt von gewaltbereiten Polizisten, zusammenzubrechen. Denke ich an die Geschehnisse vom Gezi-Park im vergangenen Jahr, blutet mir das Herz.
Sie kamen an die Regierung, weil Sie mehr Demokratie versprachen. Sie wollten Menschenrechte nach europäischem Standard in der muslimisch geprägten Türkei einführen, die längst schon ein laizistischer Staat gewesen war. Sie wollten eine Annäherung an die EU, von der wir nun weiter entfernt sind denn je. Merken Sie überhaupt, dass in diesem Land keine Meinungsfreiheit mehr herrscht?
Man kontrolliert meine Tweets, und ich mache mich strafbar, falls ich nur einen falschen Ton, ein falsches Wort gegen Sie und ihre Partei verwende. Sie sperren Twitter, als könnten Sie dieses Denken und Fühlen einfach aus Ihrer Wirklichkeit wegzaubern. Sie führen eine gesetzliche Internetzensur ein und wollen uns weismachen, das sei zu unserem Schutz.
Ihr Vizepremier also stört sich daran, wenn Frauen in der Öffentlichkeit laut lachen. Das sei nicht tugendhaft. Ich habe von Ihnen oder Ihrer Regierung noch nie ein Wort über Übergriffe auf Frauen am hellichten Tag gehört.
Kein Bus mehr wegen der Grabscher
In Istanbul steigen meine Freundinnen nicht in volle Busse ein – auch ich nicht. Sie müssen mit dem Taxi fahren – auch wenn sie es sich nicht leisten können, weil die Angst vor sexueller Belästigung einfach zu groß ist. Das ist ein Armutszeugnis für die frommen, ach so moralischen, religiösen Viertel, in denen man als Frau beschimpft und belästigt wird.
Druck auf der Straße, das erlebe ich als "Ungläubige", wie Sie mich einfach beschimpfen, auch in anderen Situationen. Haben Sie schon mal während der Fastenzeit an der Wasserflasche genippt? Am Ramadan hole ich mit zitternder Hand mein Wasser heraus, und nur in den westlichen Teilen Istanbuls fühle ich mich wohl.
Dabei gibt es so viele Gründe, weshalb ich am Ramadan nicht faste. Ich könnte meine Tage haben (man darf während der Periode nicht fasten), oder aber ich bin Atheistin, Armenierin oder Alevitin. Vielleicht bin ich aber auch eine gläubige Muslima und habe einfach keine Lust zu fasten. So vielfältig kann das Leben sein. Das halten Sie und Ihresgleichen nicht aus. Ja, Pluralismus und Toleranz gehören zur Demokratie, Herr Erdogan. Aber soweit ich es verstanden habe, verstehen Sie unter Demokratie nur die Diktatur der Mehrheit. Sie entscheiden, und wir müssen gehorchen.
In Ihrer Türkei werde ich junge, "ungläubige" Frau mit einer oppositionellen Meinung nicht nur in meiner Freiheit eingeschränkt, sondern man macht mir das Leben schwer. Ich kenne viele, die wollen am liebsten dieses Land verlassen, weil sie keine Perspektive für sich sehen. "In diesem Land kann man nicht leben", sagen gut ausgebildete, vaterlandstreue Türkinnen und Türken nach jeder Ihrer öffentlichen Hassreden.
Die Tränen meiner Freundin Büsra
Mag sein, dass Sie mich und meine Lebenswelt und die meiner Freunde nicht kennen und nicht verstehen wollen. Aber haben Sie einmal versucht, sich in die Rolle einer jungen, frommen AKP-Muslima zu versetzen? Meine ehemalige Mitbewohnerin Büsra war Ihr größter Fan. "Erdogan sollte immer im Amt bleiben", sagte sie mir noch vor vier Jahren in unserem Studentenwohnheim in Istanbul während meines Auslandssemesters.
Dass man dieses Mädchen einer Gehirnwäsche unterzogen hatte, wurde mir klar, als sie mir erzählte, dass man zu einer Maus schrumpfen könne, wenn man den Koran nicht respektiere. Als sie ein kurzes Kleid trug und darunter lange Leggins, wurde sie von ihrem Freund beschimpft, mit dem sie sich heimlich im modernen Nisantasi getroffen hatte: "Seit wann läufst du herum wie eine Hure?" Sie weinte stundenlang.
Diese Tränen zu trocknen, hat gedauert, Herr Erdogan. Sie hat geweint, weil sie genauso sein wollte wie all die anderen modernen, muslimischen Kommilitoninnen, die studieren und, soweit es geht, ihre Freiheiten ausleben wollen. Sie wollte einfach nur das Leben genießen. Sie selbst sein.
Unser Land verliert, je länger Sie an der Macht sind und sich verhärten, langsam die Zukunftsperspektive. Wollen wir so enden wie Ägypten, Syrien oder der Irak? Sie verspielen die Chance, dass junge Menschen an sich und ihr Land glauben. Ich frage mich sehr oft, Herr Erdogan, waren Sie eigentlich nie jung?
Die in Deutschland geborene Autorin ist 27 Jahre alt, lebt und arbeitet seit über einem Jahr in Istanbul und wird ab Herbst am King's College in London ihren MA-Abschluss machenEr hat die Türkei zu einem Land gemacht, das nur seine Meinung toleriert. Das nennt er Demokratie. Die Jugend fühlt sich wie im Gefängnis. Das bringt eine junge Deutsch-Türkin auf die Palme.
|