Die sozioökonomische Basis islamistischer Bewegungen
Das rasche Bevölkerungswachstum der 60er, 70er und 80er Jahre in fast allen islamisch geprägten Staaten schuf die Generationen, die heute die personelle Basis der islamistischen Bewegungen bilden. Ihre Regierungen stellte diese demographische Entwicklung vor fast unlösbare Probleme.
Auch wenn die meisten Staaten eine materielle Grundversorgung der Bevölkerung sichern konnten, wuchs vor allem die Arbeitslosigkeit unter jungen Abgängern der Schulen und Universitäten. Dieses Problem verschärfte sich in vielen Staaten durch den enormen Ausbau der Bildungssysteme seit den 50er Jahren. Den Kindern auch der unteren Bevölkerungsschichten stand nun der Zugang zu den Universitäten offen, doch nur die frühen Jahrgänge und diejenigen, die im westlichen Ausland ausgebildet wurden, konnten auf ein gesichertes Auskommen hoffen. Da in Staaten wie Algerien, Syrien und Ägypten der private Sektor nur schwach ausgebildet war, drängten die jungen Akademiker in den Staatsdienst, der in den 70er Jahren nur noch einen kleinen Teil der Absolventen absorbieren konnte. Mittlerweile gilt dies selbst für ehemals sehr reiche Staaten wie Saudi-Arabien, die seit Mitte der 80er Jahre unter dem Verfall des Ölpreises leiden. Die Erziehungssysteme der meisten arabischen Staaten produzieren heute daher Hunderttausende mehr schlecht als recht gebildete Akademiker und entlassen sie in die Arbeitslosigkeit.
Diese Generation wird in arabischen Medien oft als Zeitbombe (arab. al-qunbula al-mawquta) bezeichnet. Bis in die 80er Jahre konnten viele Regime die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerungen noch durch die Subventionierung von Nahrungsmitteln, Brennstoffen, Wohnungen und öffentlichen Verkehrsmitteln beschwichtigen. Doch sie waren zur Begrenzung ihrer Ausgaben gezwungen, weil die reichen Ölstaaten spätestens ab Mitte des Jahrzehnts ihre Zahlungen reduzierten und weniger ausländische Arbeitskräfte einstellten. Durch den Zweiten Golfkrieg verloren Hunderttausende Ägypter, Jemeniten, Jordanier und Palästinenser ihre Arbeitsstellen im Irak, in Kuwait und in Saudi-Arabien; ihre Heimatländer litten unter dem Wegfall ihrer Überweisungen aus dem Ausland und steigenden Arbeitslosenzahlen.
Außerdem gingen Absatzmärkte im zerbrechenden Ostblock verloren, die finanzielle Unterstützung durch die Supermächte USA, UdSSR und ihre Verbündeten versiegte und die Staatsausgaben stiegen. Schmerzhafte Strukturanpassungsprozesse – vom Internationalen Währungsfonds (IMF) und der Weltbank gefordert – verschlechterten die Lebensbedingungen weiter Bevölkerungskreise. Globalisierung bedeutete für sie vor allem Verelendung, und dieser Prozess intensivierte sich in den 90er Jahren. Die immer schlechter werdenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen trafen auf steigende Erwartungen an die eigene berufliche und soziale Zukunft. Dies betraf nicht nur die jungen Akademiker, die aufgrund ihrer Bildung einen substanziellen sozialen Aufstieg erhofften, ihre Ziele jedoch meist nicht verwirklichen konnten. Auch die breite Bevölkerung kam in Kontakt zu Lebensformen und Wohlstand der industrialisierten Länder.
Zuerst Radio, vor allem aber Fernsehen und ab den 90er Jahren Satellitenfernsehen und Internet weckten den Wunsch vieler Menschen der Region, ähnlich zu leben wie die Menschen im Westen. Tatsächlich aber wuchsen die Unterschiede zwischen arm und reich in den letzten Jahrzehnten und eine westlich geprägte Lebensweise blieb das Privileg kleiner, oft korrupter Eliten. Mehr noch als in Europa und den USA wird Reichtum in vielen dieser Länder ostentativ zur Schau gestellt, was Widerstand weckte. Da der Westen als Quelle dieser Form der Moderne wahrgenommen wurde und wird, richtet sich die Enttäuschung all derjenigen, die nicht daran teilhaben, auch gegen den Westen und dessen Verbündete in der Region. Die zweite Welle der Globalisierung nach 1989 sehen viele Bewohner der Region deshalb als einen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Angriff auf ihre eigenen Werte und Lebensformen und neue Variante westlichen Hegemoniestrebens. So schreibt Amr Hamzawy über die Situation nach dem 11. September:
"Die Dramatik der momentanen Situation bedingt dabei eine Vereinfachung und eine Zuspitzung derjenigen Positionen, die die Globalisierung vor allem als neue Form westlicher Hegemonie deuten. Die islamistische Gewalt wird zwar nicht direkt gerechtfertigt. Sie wird jedoch entweder als ein lokaler Ausdruck des vermeintlich vom Westen beschworenen globalen Kampfes der Weltkulturen beziehungsweise der Weltreligionen oder als ein Endprodukt westlicher Ungerechtigkeiten gegenüber der arabisch-islamischen Welt verharmlost. Nur in wenigen Artikeln sind kritische Stimmen zu vernehmen, die die Gleichstellung von Globalisierung und Verwestlichung hinterfragen und in der islamistischen Gewalt eine globale Gefahr sehen." Die eigenen Eliten, die den Trend zur Verwestlichung unterstützen, nehmen sie dabei als die (oft korrupten) Erfüllungsgehilfen wahr. Stimmen, die die weit verbreitete Identifikation von Globalisierung und Verwestlichung (oder Amerikanisierung) kritisieren, sind selten. Es waren jedoch nicht nur sozioökonomische Probleme, die den Islamisten Zulauf verschafften. Soziales Elend und enttäuschte Erwartungen gingen einher mit einem Streben nach kulturell-religiöser Authentizität und Eigenständigkeit. Allein die Tatsache, dass die Hamburger Attentäter des 11. September, deren Zukunftsaussichten aufgrund ihrer Ausbildung im Westen sehr gut waren, zu Islamisten und dann zu Terroristen wurden, macht dieses Phänomen deutlich. Denn seit der europäischen Expansion des 19. Jahrhunderts herrscht unter vielen Muslimen das Gefühl vor, von einer fremden und überlegenen Zivilisation beherrscht und fortwährend gedemütigt zu werden. Je enger die Kontakte zwischen Osten und Westen im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden, umso stärker prägte sich dieses Gefühl aus. Dies erklärt die Suche der Islamisten nach einem identitäts- und sinnstiftenden Element in der eigenen Geschichte.
In dieser Situation musste eine Ideologie besonders erfolgreich sein, die den Rückgriff auf die eigene, authentische Tradition forderte und Gerechtigkeit versprach. Liberalismus, Sozialismus und Nationalismus galten den meisten Menschen der Region als gescheitert, da alle diese importierten Ideologien beziehungsweise die sie tragenden Eliten innen- wie außenpolitisch versagt hatten. Also wandten sie sich an das Eigene und folgten den Islamisten, die seit den 1970er Jahren mit der Parole "Der Islam ist die Lösung" vermehrt Gehör fanden. Seitdem dominieren die Debatten über die Rolle des Islam in der Gesellschaft die Innenpolitik fast aller Länder zwischen Marokko und Indonesien. Die Islamisten sind unter all denjenigen Teilen der Bevölkerung erfolgreich, die die Probleme ihres Alltags nicht oder kaum bewältigen können, seien sie nun wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller Art. Der Islamismus verspricht ihnen eine ganzheitliche und vergleichsweise simple Lösung für ihre vielfältigen Probleme. Sie stellen wirtschaftliche Gerechtigkeit in Aussicht, lindern soziale Missstände durch die Bereitstellung von Dienstleistungen und verschaffen Selbstbewusstsein und Halt durch aktive Mitarbeit. Oft sind es vor allem jüngere, meist männliche Angehörige der (unteren) städtischen Mittelschichten, die nicht bereit sind, sich mit ihren eng begrenzten Möglichkeiten sozialen Aufstiegs abzufinden. So erklärt sich, dass die Islamisten in vielen Gesellschaften in weiten Kreisen populär sind, auch wenn ihre Unterstützer nur in Ausnahmefällen Mehrheiten darstellen. Unter den Studenten sind es häufig die Absolventen naturwissenschaftlich-technischer Studiengänge bescheidener Herkunft, die sich islamistischen Bewegungen anschließen. Oft leben sie erst in zweiter Generation in der Stadt und stammen aus den Randzonen der Städte, in denen die Einwanderer vom Land leben. Hier verbindet sich die Furcht vor sozialem Abstieg mit einer Identitätskrise, die für Migranten nicht untypisch ist.
Diese Bevölkerungsgruppen bilden auch die soziale Basis für militante Gruppierungen. So entstammten die 15 saudi-arabischen Attentäter – soweit dies bekannt ist – eher bescheidenen Verhältnissen, d.h. der unteren Mittelschicht. In ihrem Fall zeigt sich aber noch eine weitere Dimension: die der regionalen Zugehörigkeit. Schon im Ägypten der 70er bis 90er Jahre kamen die militanten Islamisten meist aus Städten der Peripherie im Süden des Landes und den städtischen Randzonen Kairos. Ihr Protest war somit auch der Widerstand der vernachlässigten Peripherie in einem hoch zentralisierten Entwicklungsland. In gewisser Weise trifft dies auch auf die Attentäter des 11. September zu. Fast alle saudi-arabischen Attentäter stammten aus den westlichen Provinzen des Königreichs, Asir und Hijaz, genauer gesagt aus denjenigen Regionen, die seit der Eroberung durch das zentralarabische Staatsvolk in den 1920er Jahren in jeder Hinsicht vernachlässigt worden waren. Sie schlossen sich – wie der aus dem Südjemen stammende Usama Bin Ladin auch – unter anderem deswegen der Opposition an, weil sie hofften, durch die Hinwendung zur einer radikalen Interpretation der Wahhabiya 1 gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Deshalb sind es immer wieder Personen aus der regionalen wie gesellschaftlichen Peripherie, die sich der Opposition anschließen.
Nur so können sie hoffen, ihre untergeordnete Stellung in der saudi-arabischen Stammesgesellschaft zu überwinden. Dennoch blieben die militanten Islamisten sowohl in Saudi-Arabien, als auch in Algerien oder Ägypten immer Außenseiter, weil sie mit ihrer Gewalttätigkeit gegen gesellschaftliche und religiöse Normen verstoßen. Nur wenn sich die Lebensbedingungen in einem Land rapide verschlechtern, erhielten auch sie größeren Zulauf. Dies galt beispielsweise für Algerien gegen Ende der 80er Jahre. Heute sind vor allem die besetzen und selbstverwalteten Gebiete der Westbank und des Gazastreifens betroffen, die neben dem Irak und Afghanistan die Elendszonen der Region sind. Unter den Palästinensern hat der Friedensprozess im Nahen Osten Erwartungen geweckt, die in den letzten Jahren vor allem unter jungen Leuten in eine furchtbare Enttäuschung umgeschlagen ist. Sie bilden die soziale Basis für Hamas (arab. Harakat al-Muqawama al-Islamiya) und den Islamischen Jihad. Vor allem Hamas ist es dabei gelungen, sich als Massenbewegung zu etablieren, die heute schon mehr als ein Drittel der palästinensischen Gesellschaft hinter sich weiß.
Verstärkt wird die Bindung dieser Schichten an islamistische Bewegungen durch deren soziale Dienste. Islamistische Gruppierungen veranstalten Korankurse, eröffnen islamische Schulen und bieten medizinische Versorgung an, wo sie am nötigsten ist. Diese Hilfestellungen machen sie zu Konkurrenten des meist schlechten staatlichen Sozialsystems und erlauben es ihnen eine Art Parallelgesellschaft zu schaffen. Neben Hilfestellungen für die alltäglichen sozialen Probleme liefern diese in der Regel straff organisierten Gruppierungen die Möglichkeit durch das Eingebundensein in eine umhegte Gemeinschaft neuen Sinn in einem ansonsten hoffnungsarmen Leben zu finden. Sie geben Halt, der nirgendwo sonst zu haben ist, vor allem nicht bei einem Staat, der meist nicht in der Lage und/oder nicht willens ist, die Probleme seiner Bewohner zu lösen.
Hamas, Hizbullah und die jordanischen Muslimbrüder sind Musterbeispiele für Organisationen, die umfassende soziale Dienste anbieten. Vor allem die Schulen, in denen Weltbild und Ideologie dieser Gruppierungen mittlerweile an ganze Generationen weitergegeben werden, sind äußerst erfolgreich, da die staatlichen Erziehungssysteme nur unzureichend ausgestattet sind. Hier werden die Islamisten der kommenden Jahre geprägt und möglicherweise die Grundlagen für eine zukünftige Umgestaltung ganzer Staaten geschaffen. Schon jetzt weisen die gemäßigten Bewegungen, wie beispielsweise die ägyptischen und jordanischen Muslimbrüder, die vor allem im sozialen Bereich aktiv sind, die größte politische Breitenwirkung auf. Zur Durchsetzung ihrer politischen und gesellschaftlichen Ziele benötigen die islamistischen Gruppierungen Geld. Dies erwirtschaften sie teils selbstständig in einem stetig wachsenden islamischen Wirtschaftssektor, der davon profitiert, dass einfache Muslime ihr Geld nur selten Banken anvertrauen, die im Verdacht stehen, den im Koran verbotenen Zinswucher zu betreiben. Darüber hinaus würden viele Angehörige der Mittelschichten ihr Geld staatlichen Institutionen nicht anvertrauen. Islamische Banken und andere Wirtschaftsunternehmen operieren mittlerweile weltweit, und ihre Beziehungen zu islamistischen Gruppierungen werden in vielen Ländern heftig diskutiert. Außerdem existieren zahlreiche islamische Wohlfahrtsorganisationen, die vor allem in den reichen Golfstaaten florieren. Sie sind immer wieder in Krisenregionen präsent, in denen Muslime betroffen sind. Mittlerweile stehen einige von ihnen sogar unter dem Verdacht, terroristische Gruppierungen verschiedener Provenienz zu finanzieren.
Tatsächlich ist es oftmals schwierig, zwischen humanitären Hilfslieferungen und der Unterstützung für militante Gruppierungen zu unterscheiden. Ebenso wichtig ist jedoch die Unterstützung von Islamisten durch Staaten und internationale Organisationen. Einer der wichtigsten Financiers der Islamisten war bisher Saudi-Arabien, das beispielsweise die Taliban, die Islamische Heilsfront in Algerien und die palästinensische Hamas unterstützte. Darüber hinaus war die Förderung islamistischer Bewegungen und islamisch orientierter Erziehungsprogramme einer der Grundpfeiler saudi-arabischer Außen- und Innenpolitik seit den 60er Jahren, oft im Rahmen der Islamischen Weltliga und der Organisation Islamische Konferenz (OIC). Auf diese Weise strebte das Regime, gestützt auf die seit 1973 explodierenden Öleinnahmen, eine Führungsposition in der arabisch-islamischen Welt an. Doch diese Politik hat sich als gefährlich erwiesen. Denn Saudi-Arabien ist neben Ägypten und Israel der engste Verbündete der USA im Vorderen Orient, islamistische Bewegungen sind aber prinzipiell antiwestlich. Dieser Widerspruch blieb vielen jungen Islamisten nicht verborgen, so dass sie zu Gegnern des saudischen Regimes wurden.
So hat sich die saudische Regierung durch die Förderung islamistischer Bewegungen und Erziehungsprogramme mittlerweile ihre eigenen Feinde geschaffen, wie das Beispiel der teilweise religiös gebildeten saudi-arabischen Attentäter zeigt. Auch wenn die saudische Regierung in den kommenden Jahren vermutlich etwas vorsichtiger agieren wird, zeichnet sich in ihrer Politik keine Kehrtwende ab. Hinzu kommt, dass auch andere islamistische und säkulare Regime sowie wohlhabende Privatpersonen – vor allem in den reichen Golfstaaten – Islamisten unterstützen.
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1 Die Ideologie der Wahhabiya ist von einer deutlichen Unterscheidung in Gläubige und Ungläubige geprägt. Als gläubig gilt den Wahhabiten aber nicht der gewöhnliche Muslim, sondern derjenige, der die Verhaltensvorschriften der Wahhabiya minutiös befolgt und ihre theologischen Ansichten vorbehaltlos übernimmt. Sie glaubten, in Koran und Sunna ein detailgetreues Abbild der idealisierten Frühzeit gefunden zu haben und versuchten unerbittlich, Gottes Gebote wortgetreu in die Tat umzusetzen. Im Najd des 18. und 19. Jahrhunderts waren das Rauchen, Musizieren und das Tragen seidener Kleidung verboten. Außerdem wurde das fünfmalige Gebet in der Gemeinschaft verpflichtend. Eine Religionspolizei, ähnlich der der Taliban, sorgte dafür, dass alle Vorschriften eingehalten wurden. Nach außen lieferte die Wahhabiya das ideologische Rüstzeug für die Expansion des saudischen Staates. Alle Nichtwahhabiten galten ihr als Ungläubige, die im jihad bekämpft werden sollten.
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