Schuld ist natürlich das Volk
In Deutschland werden zuwenig Kinder geboren, heißt es. Doch gesicherte Daten für Prognosen gibt es nicht. Weil sich niemand richtig nachzufragen traut.
Von Björn Schwentker
Es gibt in Deutschland keine verläßlichen Zahlen über Kinderlosigkeit. Diese Feststellung von Michaela Kreyenfeld vom Max-Planck-Institut für Demographie in Rostock muß zumindest irritieren. Ist die miserable Geburtenrate der Deutschen nicht längst bekannt? Die Zahl von durchschnittlich 1,37 Kindern pro Frau, die weit unter der zum Erhalt der Bevölkerung notwendigen 2,1 liegt, kennt doch jeder.
Das Problem der sich umkehrenden Gesellschaftspyramide ist doch längst erfaßt, sollte man meinen.
Das Gegenteil ist der Fall, sagt die Soziologin Kreyenfeld: "Obwohl die Familienplanung sich sehr stark ändert, ist die Geburtenrate seit den achtziger Jahren fast unverändert niedrig." Für eine verläßliche Prognose stehe jedenfalls nicht die Geburtenziffer an erster Stelle. Wichtiger seien Daten darüber, in welchem Alter Frauen ihr erstes Kind bekommen, wie viele tatsächlich dauerhaft kinderlos blieben - und inwiefern die Entscheidung für ein Kind von Alter und Bildung abhänge. Erst mit solchen Zahlen könne man überhaupt entscheiden, ob es in Deutschland ein Problem zunehmender Kinderlosigkeit gebe oder ob heutige Frauen lediglich später Kinder kriegten.
Doch verläßliche Daten zur Kinderlosigkeit lassen sich aus keiner Erhebung in Deutschland bestimmen. "Fast beliebig werden verschiedene Zahlenwerte veröffentlicht", sagt Kreyenfeld, "jeder rechnet mit den Zahlen, die er gerade hat, vergleichbar sind sie fast nie."
Einig sind sich die deutschen Demographen allerdings, daß die deutschen Kinderlosenzahlen in Europa einzigartig unzuverlässig sind. Die Standesämter melden zwar ordnungsgemäß jede Geburt, geben aber die Reihenfolge der Kinder in der Familie nur innerhalb einer bestehenden Ehe an. Zudem wird die große und steigende Zahl unehelicher Geburten ganz ohne Reihenfolge der Kinder erfaßt. Wieviel unverheiratete Kinderlose erstmals Mutter werden, ist aus den Zahlen der Standesämter nicht ersichtlich. Und in der Geburtenstatistik wird etwa eine Frau mit zwei Kindern, die sich scheiden läßt und neu heiratet, als kinderlos gezählt.
Weil die Daten der Geburtenstatistik so fragwürdig sind, benutzen die meisten Demographen einen anderen amtlichen Datensatz: den Mikrozensus. Zwar ist die Erhebung statistisch verläßlich - schließlich befragen die statistischen Landesämter dazu jährlich 800.000 Deutsche zu ihrer Haushalts-, Familien- und Einkommenssituation. Doch zur Bestimmung der Kinderlosenzahlen taugt auch sie nur begrenzt. Denn im Mikrozensus werden nur die Kinder pro Haushalt gezählt. Selbst in traditionellen Vater-Mutter-Kind-Haushalten stimmen die Kinderzahlen daher nur so lange, bis die erwachsenen Kinder das Haus verlassen. Dann gelten plötzlich schlagartig mehr Frauen ab 40 Jahren als kinderlos - ein unsinniges Ergebnis.
Bisher war es daher gängige Praxis, die Kinderlosigkeit schon im Alter von 35 Jahren zu bestimmen. Eine Methode der Datenerhebung, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung nicht Schritt hält. Nicht selten bekommen heute Frauen, die älter als 35 Jahre sind, ihr erstes Kind - eine steigende Zahl von Geburten, die dem Mikrozensus durch die Lappen gehen. "Die Kinderlosigkeit wird dadurch generell überschätzt", sagt Michaela Kreyenfeld, "das führt etwa zu der Horrormeldung von 40 Prozent Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen."
Diese Fehlschätzungen will Johannes Huinink, Professor für Soziologie an der Universität Bremen, nicht hinnehmen, "denn Kinderlosigkeit ist zu einem Reizwort geworden, das schon fast an Sozialschmarotzertum reicht". In der Politik sei die Zahl von 40 Prozent kinderlosen Akademikerinnen "fast dankbar" aufgenommen worden. Gerade für die Regierung seien korrekte Zahlen wichtig, betont Michaela Kreyenfeld. Wenn etwa die Pflegeversicherung für Kinderlose erhöht würde, dann müsse man doch zuerst wissen, wer eigentlich dauerhaft kinderlos bleibe. Und jede Familienpolitik brauche schließlich eine verläßliche statistische Grundlage.
Die wäre eigentlich ganz einfach zu haben. Dazu müßte man im Mikrozensus einfach nach der tatsächlichen Kinderzahl der Frauen fragen. Genau das sah für Frauen zwischen 45 und 60 Jahren ein Neuentwurf des Mikrozensusgesetzes vor, der im Sommer dem Bundesrat vorlag. Doch die Länderkammer lehnte die Vorlage ab.
Anders als viele Demographen kann man beim Statistischen Bundesamt, das den Mikrozensus auswertet, die Entscheidung des Bundesrates verstehen: "Die Frauen müßten sonst Dinge offenbaren, die sehr weit in ihre Intimsphäre reichen", sagt Amtspräsident Johann Hahlen. Man wisse ja nicht, ob eine Frau eventuell Kinder angeben müsse, von denen das familiäre Umfeld bis dahin noch gar nichts wußte. Daß dieselbe Frage in anderen europäischen Ländern nicht auf Ablehnung stößt, erstaunt Hahlen nicht. Es sei eben eine Eigenschaft der Deutschen, bei vielen Fragen sehr sensibel zu reagieren, so der Amtschef: "Aus der empirischen Sozialforschung wissen wir, daß unsere Mitbürger solche Daten nicht offenlegen."
Empiriker Huinink kann da nur lachen: "Das ist amateurhaft. An vielen Studien läßt sich belegen, daß diese Fragen stets beantwortet werden. Da sind die Ämter dem Stand der empirischen Forschung leider 30 Jahre hinterher. "Hahlen hätte persönlich gegen die neue Frage im Mikrozensus gar nichts einzuwenden, aber: "Wir müssen die Grundstimmung in der Bevölkerung akzeptieren.
Im Endeffekt haben die Länder im Bundesrat entschieden: Es sind zu viele Fragen im Mikrozensus, das ist zu aufwendig und zu teuer. Dann begann das Streichkonzert." Was selbst der Bundesamtspräsident nicht versteht: Gestrichen wurde auch die bisher jährlich gestellte Frage nach der Benutzung von Kindergärten und Kindertagesstätten. Eine Zahl mehr, die man im Familienministerium vermissen wird. "Dabei war dies die einzige Möglichkeit, die tatsächliche Nutzung der Plätze zu erfassen", sagt Johann Hahlen. Schlechte Zeiten für gute Zahlen. Denn das neue Mikrozensusgesetz legt den Fragenkatalog bis 2012 fest.
Der Demographie fehle hierzulande die Lobby, um ihre Fragen gegen die Interessen der Ämter und anderer Forschungszweige durchzusetzen, sagt Soziologe Huinink. Hoffnungen setzt er in ein neues Gremium, das am morgigen Montag erstmals in Berlin tagen wird: den Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten, der auf Initiative des Forschungsministeriums Vertreter von Wissenschaft und amtlicher Statistik an einen Tisch bringt.
"Wir wollen der Wissenschaft bei der amtlichen Datenerhebung und der Politik ihr legitimes Gewicht verleihen", sagt Gert Wagner, Professor am DIW und Vorsitzender im Gründungsausschuß des neuen Rates. Denn statistische Ämter und Wissenschaft zögen nicht immer am gleichen Strang: "Die Aufgaben sind unterschiedlich, aber Synergieeffekte sind möglich." Die Ämter sollen sich künftig stärker daran orientieren, was Wissenschaft, aber auch Politik an Daten brauchen. Eine starre Regelung wie beim Mikrozensus, dessen Fragenkatalog per Gesetz auf Jahre festgeschrieben wird, findet Wagner dabei kontraproduktiv: "Zum Teil richtet sich das sogar gegen das aktuelle Interesse der Politik selbst." Er wolle den neuen Rat überzeugen, die Erhebung flexibler zu machen und auf eine völlig neue gesetzliche Grundlage zu stellen.
Die Idee findet auch der Präsident des Statistischen Bundesamtes nicht abwegig. Daß in den neuen Mikrozensus endlich die Fragen zur Kinderlosigkeit aufgenommen wird, bezweifelt er allerdings. "Wir sind nicht die Erzieher der Bevölkerung", sagt Hahlen. Die intime Kinderfrage sei den Befragten auch in Zukunft nicht zumutbar, wenn sie sie nicht beantworten wollten - bei aller gesellschaftlichen Notwendigkeit. So wäre endlich klar, wer für das demographische Datendefizit und seine Folgen für die Familienpolitik verantwortlich ist: Das Volk ist selbst schuld.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 31.10.2004, Nr. 44 / Seite 66
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