© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. 04/05 21. Januar 2005
„Das Tötungsereignis unserer Zeit“ Mechthild Löhr, Vorsitzende der Christdemokraten für das Leben, über den Fall Meisner und den Kampf gegen die Abtreibung Moritz Schwarz
Frau Löhr, Kardinal Meisner hat sich dafür entschuldigt, in seiner Dreikönigspredigt (Dokumentation in JF 03/05) die Abtreibung in einem Atemzug mit dem Holocaust genannt zu haben.
Löhr: Ich bin froh, daß es noch so mutige Kirchenmänner wie Kardinal Meisner gibt, die Abtreibung immer wieder in den Vordergrund stellen und als das benennen, was sie ist: das Tötungsereignis unserer Zeit. (Siehe Hintergrundberichte auf den Seiten 8 und 10)
Wie mutig war der Kardinal tatsächlich? Sein Rückzieher folgte der Kritik an seinen Worten immerhin auf dem Fuße.
Löhr: Ich kenne den Kardinal als einen durch und durch seelsorgerischen Menschen, dem es fernliegt, andere Menschen zu verletzen. Seine Entschuldigung lautete lediglich: „Hätte ich geahnt, daß mein Verweis auf Hitler hätte mißverstanden werden können, ich hätte seine Erwähnung unterlassen.“ Er hat sich nicht für den Inhalt seiner Predigt entschuldigt.
Meisner hat sich schon früher gegen die Abtreibung geäußert - ohne Skandal.
Löhr: Sie wissen doch, wie das funktioniert. Es ist auch eine Frage, wer wen kritisiert.
Sie meinen, weil es Paul Spiegel war, der widersprochen hat?
Löhr: Ich meine, daß die Medien manche Dinge gern zu einem Skandal aufblasen. Das ist hier geschehen.
Da ist Paul Spiegel aber anderer Ansicht. Nach seiner Meinung hat Kardinal Meisner „ungestraft den millionenfachen Mord an den Juden relativiert“. Laut dpa weist er zudem Meisners Distanzierung als bloße „Erklärung, nicht als Entschuldigung“ zurück. Der „Spiegel“ berichtet, der Zentralratspräsident habe außerdem gedroht, „Personen des öffentlichen Lebens hätten aufgrund solcher Äußerungen schon von ihren Ämtern zurücktreten müssen“.
Löhr: Der Kardinal hat verschiedene Greuel der Weltgeschichte aufgezählt - nicht mit der Absicht, zu vergleichen, sondern um ganz nüchtern darzustellen, daß durch Abtreibung schon viele Millionen von Kindern ums Leben gekommen sind. In seiner Erklärung hat er darauf hingewiesen, daß seine Predigt „mit keinem Wort die Einzigartigkeit des Genozids an den Juden unter Hitler relativiert hat. Der Vergleich der Gegenwart mit den Zeiten unter Herodes, Hitler oder Stalin bezieht sich allein darauf, daß Verfehlungen am menschlichen Leben geschehen sind, die sich darauf zurückführen lassen, daß Menschen sich zum Herrn über das Leben machen. Heute ist die Annahme fast Allgemeingut, der Mensch könne über das Lebensrecht ungeborener Kinder ohne weiteres entscheiden und verfügen.“ Kriterium für ein Urteil in dieser Frage ist aber allein die Tatsache der Tötung, nicht die politische Gesinnung, aus der heraus sie erfolgt. Wir sind in erster Linie für unsere Zeit verantwortlich, nicht für die Vergangenheit.
Offensichtlich täuschen Sie sich da. Offensichtlich handelt es sich bei Abtreibung und Kommunismus nicht um Jahrhundertverbrechen.
Löhr: Das Problem ist, daß bei uns kaum jemand bereit ist, sich über Abtreibungen oder den Stalinismus auch nur aufzuregen. In den USA kann man aber sogar Präsidentschaftswahlen am Thema Abtreibung ausrichten. Nicht alle westlichen Gesellschaften sind also so gleichgültig wie unsere.
Leidet die Zurkenntnisnahme des Jahrhundertverbrechens der Abtreibung darunter, daß es neben dem Jahrhundertverbrechen Holocaust keine anderen Jahrhundertverbrechen geben darf?
Löhr: Diesen Zusammenhang möchte ich nicht herstellen. Der Nationalsozialismus behält auch angesichts der Abtreibung seine Einmaligkeit. Anders als bei dem Massenmord an den Juden steht hinter der Abtreibung kein erkennbarer teuflischer Masterplan. Das darf aber nicht bedeuten, daß man das Grauen der Abtreibung nicht klar benennen und bekämpfen muß.
„Bei allem Verständnis für die Einstellung des Bischofs gegenüber der Abtreibungsproblematik“, so wird Paul Spiegel vom „Stern“ wiedergegeben, verstehe er nicht, „wie ein Vergleich gezogen werden könne zwischen dem, was Frauen hinsichtlich ihres eigenen Körpers tun, und dem fabrikmäßigen Mord an Menschen“.
Löhr: Paul Spiegel folgt hier leider - wie so viele - der typischen „Mein Bauch gehört mir“-Propaganda. Er tut so, als habe Kardinal Meisner die Ermordung der Juden mit einem mehr oder weniger freiwilligen Eingriff am Körper der Frau gleichgesetzt. Bei Abtreibungen tun Frauen - und ihre Helfer - aber nichts „hinsichtlich ihres eigenen Körpers“, sondern beenden das Leben ihres Kindes. Sie zerstören und beenden ein Leben, das zwar von ihnen abhängt, ihnen jedoch nicht gehört. Die abgetriebenen Kinder kommen in diesem Zitat Paul Spiegels als Personen jedoch gar nicht vor. Spätestens darin werden sie den Opfern aller Völkermorde gleich. Es wundert, daß Paul Spiegel das nicht sieht. Er fällt auf die Masche herein, sich Abtreibung als Freiheitsrecht, als Selbstverwirklichung der Frau vorzustellen. Zu dieser Verschleierung gehört auch, daß Ärzte nicht vom „Kind“ und nicht vom „töten“ sprechen, sondern nur von „befruchteten Eizellen“, „Gebärmutterinhalt“, oder von „Schwangerschaftsunterbrechungen“, gerade so, als könnten sie nachher wieder fortgesetzt werden. Dieses Vokabular verrät sehr deutlich den Zweck: Es soll bloß nicht das Bild eines heranwachsenden Menschen entstehen!
Also offenbart der Fall einen Skandal im Skandal?
Löhr: Ich sehe die Ursache der empörten Reaktion Spiegels in der Verharmlosung, die das Thema Abtreibung bei uns erfährt und die sich in seinen Äußerungen widerspiegelt. Das ist der eigentliche Skandal, den dieser Fall aufzeigt: Abtreibung wird bagatellisiert und tabuisiert.
Tabuisiert? Immerhin gibt es über die Abtreibung eine Diskussion und sogar parlamentarische Initiativen im Bundestag.
Löhr: Abtreibung gilt bei uns als ein ganz gewöhnliches Streitthema, etwa wie das Dosenpfand: Sie können dazu dieser oder jener Meinung sein. Die Dimension der Abtreibung als Unrecht gegenüber dem Kind aber wird dabei tabuisiert! Das können Sie übrigens daran ablesen, daß diejenigen, die das offen aussprechen, sofort verdächtigt werden, „Fundamentalisten“ zu sein. Aber gibt es etwa fundamentaleres Menschenrecht als das auf Leben? Das ist es, was Kardinal Meisner deutlich machen wollte: Abtreibung gehört nicht in die Kategorie beliebiger Meinungsverschiedenheit, sondern in die Kategorie Versagen gegen die Menschlichkeit.
Also ist die Abtreibung ein Fall von gesellschaftlicher Heuchelei?
Löhr: Nein, so sehe ich das nicht. Ich würde es eher Manipulation nennen. Denn nach meiner Erfahrung empört jede Tötung die Menschen, wenn sie diese als solche wahrnehmen. Der Punkt bei der Abtreibung ist, daß sie den Leuten - wie schon gesagt - als etwas anderes vorgegaukelt wird, als es tatsächlich ist. Diese Verharmlosung den Menschen sichtbar zu machen, betrachten die Christdemokraten für das Leben als eine ihrer Hauptaufgaben.
Welche Chancen sehen Sie, gegen die „Mein Bauch gehört mir“-Anschauung anzukommen?
Löhr: Wenn ich die Diskussion um die Demographie und die Zukunft unserer Alterssicherung betrachte, dann sehe ich diesbezüglich schon Brüche im gesellschaftlichen Konsens. Warum entscheiden sich so viele junge Frauen gegen ihr Kind? Warum finanzieren wir mit Steuermitteln Abtreibungen, obwohl unserer Gesellschaft Kinder fehlen? Allerdings gebe ich zu, daß es ein Armutszeugnis ist, daß diese Kritik materiell statt ethisch motiviert ist. Es bleibt zu hoffen, daß die materiellen Konsequenzen schließlich doch vielen Menschen helfen, das ethische Problem dahinter zu erkennen.
War es dann aber nicht ein Fehler von Kardinal Meisner, sich zu entschuldigen, statt die Gelegenheit zu ergreifen und in die Offensive zu gehen: die unverhoffte Aufmerksamkeit, die ihm Paul Spiegel verschafft hat, zu nutzen, um das Thema Abtreibung zu diskutieren?
Löhr: Ich glaube, der Kardinal ist nicht bereit, eine billige Provokation auszunutzen. Das Thema ist viel zu ernst und der Kardinal zu seriös, um sich auf Polemik einzulassen.
Wer gehört werden will, muß sich auf die Spielregeln der Mediengesellschaft einlassen. Dazu gehört auch das - nicht per se ehrenrührige - Mittel der Provokation.
Löhr: Ich glaube, daß der Kardinal nicht so denkt. Seine Predigt war ein durch und durch theologisch motivierter Text. Es ist im übrigen für einen Christen eine gute Eigenschaft, zu versöhnen, statt Öl ins Feuer zu gießen.
Müßte der Kampf gegen die Abtreibung von den Kirchen nicht insgesamt offensiver geführt werden? Nicht unbedingt mit berechnender Provokation, aber etwa mit zivilem Ungehorsam?
Löhr: Christen haben als erste Wahl immer die Möglichkeit des Gebetes und des Dialogs. Als Staatsbürger sollten sie außerdem ihre politische Meinung frei und unmißverständlich äußern und versuchen, für ihre Überzeugung mehr und mehr Unterstützer zu gewinnen.
Friedensaktivisten, Umweltschützer, Gewerkschafter etc. werden über Ihre Wahl der Mittel wohl nur milde lächeln.
Löhr: Ich gebe zu, daß die Kirchen mehr tun könnten. Fragen Sie sich zum Beispiel, wann Sie das letzte Mal eine Predigt zum Thema Abtreibung gehört haben! Da muß sich wohl jeder sehr weit zurückbesinnen. Wir Christdemokraten für das Leben sind sicher, daß sich die Kirchen nicht mit dem „Alltag“ der millionenfachen Abtreibungen jährlich weltweit abfinden werden.
Papst Pius XII. wird vorgeworfen, sich während des Holocaust angeblich lediglich aufs Beten beschränkt zu haben.
Löhr: Sie verkennen die Lage! Wenn in den Kirchen konsequent gegen Abtreibung gebetet werden würde, wäre das schon viel! Immerhin stellt die katholische Kirche inzwischen keine Abtreibungsscheine mehr aus. Das ist, wie der Papst sagte, schon ein Zeichen, daß „das Licht der Wahrheit nicht verdunkelt wird“. Natürlich würden sich auch die Christdemokraten für das Leben wünschen, daß die Signale der Kirchen viel deutlicher wären. Gleichzeitig gibt es aber wohl keinen Lebensschützer auf der Welt, der stärker profiliert ist als Papst Johannes Paul II.
Enttäuscht es Sie, daß CDU-Generalsekretär Volker Kauder in seiner Presseerklärung zum Fall Meisner zwar auf das Problem der Abtreibung hingewiesen, aber den Kardinal kritisiert hat, statt sich mit ihm zu solidarisieren?
Löhr: Natürlich, aber die Mehrheit in der CDU hat sich nun einmal mit dem Abtreibungskompromiß arrangiert - schließlich hat ihn die Partei 1995 mit verabschiedet. Und das Schweigen über die Folgen dieses Kompromisses - die immer weiter steigenden Abtreibungszahlen - nicht zu durchbrechen, ist überparteilicher Konsens in Deutschland. Darüber täuschen auch die Initiativen nicht hinweg, die immer wieder aus den Reihen der CDU im Bundestag gestartet werden. Aber man sollte diese auch nicht vergessen - immerhin!
Wenn die Union aber im großen und ganzen schweigt, ist sie dann noch die richtige Partei für Abtreibungsgegner?
Löhr: Die CDU hat sich weltanschaulich und programmatisch klar für das Recht des ungeborenen Lebens ausgesprochen. Erst viel später ist sie dieser Überzeugung faktisch untreu geworden. Grundsätzlich fühlen wir uns dennoch zugehörig zur Union. Wir setzen uns dafür ein, das sich kein weiteres Schweigen über die Realität der hohen Abtreibungszahlen ausbreitet, und weisen darauf hin, daß sie in Deutschland nach wie vor gesetzlich als rechtswidrig deklariert ist. Daß sie dennoch nicht nur geduldet, sondern sogar zu neunzig Prozent aus Steuermitteln finanziert wird, ist nicht nur eine Absurdität, sondern auch ein einzigartiger Bruch der Prinzipien eines Rechtsstaates. Denn welche Aufgabe des Staates steht höher als die, das Recht auf Leben jederzeit zu schützen!?
Abtreibung in Deutschland:
Trotz der derzeit sinkenden Zahl der gemeldeten Abtreibungen (absolute Zahl) steigt de facto der Anteil der Abtreibungen in bezug auf die (sinkende) Zahl der geborenen Kinder. Die Abtreibungsquote unserer Gesellschaft steigt also an! Offiziell wurden seit 1974 in Deutschland 4,2 Millionen ungeborene Kinder getötet. Lebensschützer schätzen die tatsächliche Zahl (Dunkelziffer) auf bis zu acht Millionen (siehe auch Forum auf Seite 18).
Mechthild Löhr ist Bundesvorsitzende der Lebensschutzorganisa-tion Christdemokraten für das Leben (CDL). Die selbständige Personalberaterin - geboren 1960 im Kempen am Niederrhein und seit 1983 Mitglied der CDU - studierte Staatsrecht, Philosophie und Politologie. Sie veröffentlichte die beiden Bände (Hrsg): „Status des Embryo“ (Naumann, 2003) und „Sterben in Würde“ (Sinus, 2004).
Christdemokraten für das Leben: Die Lebensschutz- und Menschenrechtsorganisa-tion in der CDU/CSU wurde 1985 von Parteimitgliedern gegründet, nachdem offenkundig wurde, daß die Partei immer weiter von ihrer ursprünglichen Programmatik eines unbedingten Schutzes des ungeborenen Lebens abrückte. Außer gegen Abtreibung engagieren sich die CDL auch gegen Euthanasie und in Fragen der Bioethik. Die CDL, die auch parteilosen Mitgliedern offensteht, ist Mitglied im Bundesverband Lebensrecht, der Dachorganisation der deutschen Lebensschutzorganisationen.
Kontakt:
CDL-Bundesgeschäftsstelle, Haus Lear, 59872 Meschede, Tel.: 02 91 / 22 61, Internet: www.cdl-online.de
BV Lebensrecht, Fehrbelliner Straße 99, 10119 Berlin, Tel.: 030 / 44 05 88 66, Internet: www.bv-lebensrecht.de
Foto: Lebensschützer-Aktion „1.000-Kreuze für das Leben“ (Süddeutschland, September 2004) gegen die 1.000 Ab-treibungen in Deutschland jeden Werktag: „Kardinal Meisner hat sich nicht für den Inhalt seiner Predigt entschuldigt“
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