FOCUS TSCHETSCHENIEN:
Ein ganzes Land unter Terrorverdacht?
Die internationale Kritik an den anhaltenden massiven Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien ist viel zu leise, seit die russische Regierung den dortigen Konflikt zum "Krieg gegen den Terrorismus" erklärt hat.
Das Geiseldrama in einem Moskauer Musiktheater hat die Weltöffentlichkeit schmerzlich daran erinnert, dass in Tschetschenien Krieg herrscht. Leider bedarf es dazu eines derartigen Anlasses und leider scheint er vordergründig der russischen Politik Recht zu geben, die ihre Militäraktionen in Tschetschenien mit der "notwendigen Bekämpfung des Terrorismus" legitimieren will.
Unbestreitbar gibt es tschetschenische "TerroristInnen".
Bewaffnete tschetschenische Gruppen haben schwer wiegende Menschenrechtsverletzungen begangen - sie sollen nicht nur zahlreiche Anschläge auf ZivilistInnen verübt, sondern u.a. auch gefangen genommene russische Soldaten exekutiert haben. Solche Verbrechen sind durch nichts zu rechtfertigen. Aber ebenso wenig zu rechtfertigen ist es, die gesamte Bevölkerung Tschetscheniens wegen der Verbrechen einiger weniger zu dämonisieren und leiden zu lassen bzw. dem dort herrschenden Unrecht nicht entschieden Einhalt zu gebieten.
Die Missachtung der Menschenrechte hat in Tschetschenien alarmierende Ausmaße angenommen. Einer der maßgeblichen Gründe hierfür ist der mangelnde Wille der russischen Behörden, ihre in Tschetschenien stationierten Truppenangehörigen für ihr Handeln zur Rechenschaft zu ziehen.
folter und mord
Die Eltern der 18-jährigen Cheda Kungajewa, die von einem russischen Oberst vergewaltigt und erdrosselt wurde, zeigen Fotos ihrer Tochter. Die Bilder zeigen Cheda vor und nach ihrer Ermordung.
Glaubwürdigen Berichten zufolge sind Tausende ZivilistInnen von den russischen Streitkräften willkürlich festgenommen, gefoltert oder getötet worden. Die meisten Menschen werden bei Personenkontrollen verhaftet, wenn sie sich auf dem Weg von Tschetschenien nach Inguschetien befinden, oder bei Razzien des Militärs - so genannten zachistki - in Wohngebieten. Im Zuge solcher Razzien kommt es weit verbreitet zu Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung. So sollen beispielsweise Frauen und Kinder Entführungen, Vergewaltigungen und anderen Formen der Folter sowie extralegalen Hinrichtungen zum Opfer gefallen sein. Derartige Verbrechen stellen einen schweren Verstoß gegen die Genfer Konventionen dar und sind als Kriegsverbrechen anzusehen.
Einige Militäreinheiten sind Berichten zufolge dazu übergegangen, im Vorfeld von Razzien die Nummernschilder oder andere Merkmale ihrer Fahrzeuge, anhand derer sie identifiziert werden könnten, unkenntlich zu machen.
riesiges flüchtlingsleid
Die Kämpfe in Tschetschenien haben bis heute rund 300 000 Menschen in die Flucht getrieben, vor allem Frauen und Kinder. Mitte 2002 befanden sich etwa 160 000 Menschen in überfüllten Notunterkünften und in Flüchtlingslagern, vor allem in der Nachbarrepublik Inguschetien, wo sie mit harten Lebensbedingungen zu kämpfen hatten. Außerdem werden sie von den russischen Behörden unter Druck gesetzt, in ihre Heimat zurückzukehren, unabhängig davon, ob die Lage sich dort beruhigt hat oder nicht.
skandalöse haftbedingungen
Gefangene werden oft unter katastrophalen Bedingungen - manchmal in Erdlöchern - festgehalten. Der Kontakt zu ihren Familienangehörigen, einem Rechtsbeistand oder überhaupt zur Außenwelt wird ihnen verwehrt. Überlebende berichten von routinemäßiger und systematischer Folter, darunter Vergewaltigung von Männern und Frauen, Schläge mit Hämmern oder Knüppeln, Elektroschocks und die Anwendung von Tränengas.
behörden schauen weg
Die russischen Behörden geben kaum Informationen über die Zahl der eingeleiteten Ermittlungs- oder Strafverfahren bekannt. Vorwürfe über staatliche Morde, so genanntes "Verschwindenlassen", Folter und Misshandlung ziehen nur äußerst selten Untersuchungen nach sich. Finden ausnahmsweise doch einmal Ermittlungen statt, sind diese in der Regel weder umfassend noch angemessen und führen so gut wie nie zu strafrechtlichen Sanktionen gegen die Täter.
Anstatt die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen vor Gericht zu stellen, senden die russischen Behörden offenbar sogar Einheiten der Streitkräfte, denen weithin Menschenrechtsverbrechen zur Last gelegt werden, zum Dienst nach Tschetschenien zurück!
klima der angst
Ein weiterer gewichtiger Faktor, der der Straflosigkeit Vorschub leistet, ist ganz einfach Angst. Viele TschetschenInnen bringen den russischen Behörden wenig Vertrauen entgegen und glauben nicht, mit einer Klage eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen herbeiführen zu können. Vielmehr befürchten sie, Opfer weiterer Menschenrechtsverletzungen zu werden, wenn sie Anzeige erstatten. Von Seiten der russischen Behörden wurden bislang keine geeigneten Maßnahmen getroffen, um diesem Klima der Angst entgegenzuwirken oder die Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu ermutigen, Beschwerde gegen die Täter zu erheben.
menschenrechtsschutz kontra politische interessen
Besonders nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA, als die Russische Föderation die von den USA angeführte Militäraktion in Afghanistan unterstützte, hielt sich die internationale Kritik an den Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen humanitäres Völkerrecht in Tschetschenien zunehmend in Grenzen: während die UNO-Menschenrechtskommission noch in den Jahren 2000 und 2000 in zwei Tschetschenien-Resolutionen scharfe Kritik äußerte und die russische Regierung aufforderte, die russischen Truppen zur Last gelegten Verstöße durch eine unabhängige Kommission untersuchen zu lassen (was Russland verweigerte), wurde im Frühjahr 2002 eine Tschetschenien-Resolution erst gar nicht angenommen, nachdem der russische Delegierte all jene aufgefordert hatte, gegen die Resolution zu stimmen, die "gegen Terrorismus wären".
Damit die Spirale der Gewalt, die auf allen beteiligten Seiten furchtbare Opfer fordert, angehalten werden kann, ist die internationale Gemeinschaft dringend gefordert, alle am Tschetschenienkonflikt beteiligten Seiten anzuhalten, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren und umgehend Schritte zum Schutz der Zivilbevölkerung einzuleiten - auch wenn das nicht ins politische Kalkül neuer Großmacht-Allianzen passen sollte!
http://www.amnesty.at/cont/aktionen/russia/tschetschenien.html
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