Das neue Bolivien und die Bodenschätze, 23.07.2012 (Friedensratschlag) "Wir brauchen die Bodenschätze, um gut leben zu können" Gespräch mit Elizabeth Cristina Salguero Carrillo. Über die Politik von Evo Morales, das neue Bolivien und Zerrbilder im Ausland *
Elizabeth Cristina Salguero Carrillo (geb. 1964 in Argentinien) hat am 11. Juli ihre offizielle Akkreditierung als Botschafterin des Plurinationalen Staates Bolivien in Deutschland entgegengenommen.
In Berlin ist nur knapp jede zehnte Botschafterin eine Frau. Was ist Ihr Werdegang vor Ihrem Einstieg in die große Politik?
Ich bin eigentlich studierte Journalistin und bin im argentinischen Córdoba zur Uni gegangen. Über ein Stipendium habe ich danach das Institut für Regionalentwicklung in Karlsruhe besucht. In der Bundesrepublik habe ich darum insgesamt vier Jahre gelebt, unter anderem in Freiburg. Nach meiner Rückkehr nach Bolivien arbeitete ich mehrere Jahre in Nichtregierungsorganisationen, die sich für Indigenen- und Frauenrechte einsetzen. Den wichtigsten Posten in diesem Gebiet hatte ich wohl als Vertreterin aller Frauenrechtsorganisationen Boliviens auf der Frauenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in Peking 1995 inne. Danach war ich auch als Autorin und Redakteurin für Zeitungen, Radio und TV unterwegs.
Über 60 Prozent von zehn Millionen Bolivianern bezeichnen sich als »indigen«. Woher kommt ihr persönliches Interesse für die indigene Sache?
Ich war schon immer gegen Ungerechtigkeit. In meinem Land sind die Indigenen die am meisten Diskriminierten, die am meisten Ausgeschlossenen. Sie leiden am meisten unter Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Bisher war Bolivien ein zutiefst rassistisches Land. Die Tatsache, indigene Gesichtszüge oder Identität zu haben, führte dazu, als ein Staatsbürger zweiter Klasse betrachtet und behandelt zu werden. Während meiner früheren Arbeit habe ich feststellen müssen, daß es ganz klar die Frauen sind, die Hauptzielscheibe dieser sehr starken Diskriminierung sind: Als Indigene, als Frauen und als Arme. Sicher bin ich darüber wohl endgültig zur Feministin geworden.
Ende 2005 wurde in Bolivien erstmals seit der Unabhängigkeit vom Königreich Spanien 1825 ein Bolivianer indigener Herkunft ins höchste Staatsamt gewählt. Auch das linke Bündnis »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) zog als größte Fraktion ins Parlament, Sie wurden Abgeordnete ...
Dieser Erfolg hat damals viele überrascht. Die MAS hat mich 2005 für einen Listenplatz in der Hauptstadt La Paz vorgeschlagen, was ich angenommen habe. Damals bin ich auch in die Partei eingetreten. Von 2005 bis 2009 war ich Abgeordnete, danach ein Jahr lang Kulturministerin. Präsident Evo Morales hat mich dann als Botschafterin für Deutschland vorgeschlagen, was auch vom Parlament bestätigt wurde. Meine Ernennung ist Folge einer neuen Strategie. Boliviens Image und politische Ziele als Plurinationaler Staat soll auch auf internationaler Ebene mehr Gehör verschafft werden. Eine Reihe neuer Botschafter – darunter ich – sollen diese Herausforderung angehen. Also vor allem über den Fortschritt aufklären, den Bolivien mit Evo Morales und dem MAS in den letzten Jahren geschafft hat. Meine Kenntnisse über die ganze Bandbreite bolivianischer Kultur, die jüngsten Veränderungen in Verfassung und Gesetzen und meine Deutschkenntnisse waren wohl am Ende ausschlaggebend für die Entsendung meiner Person nach Berlin.
Sie sprachen von Fortschritten während der MAS-Regierung, die seit den Wahlen 2009 immerhin mit komfortabler Zweidrittelmehrheit in beiden Parlamentskammern ausgestattet ist. In Deutschland gehen die Urteile über Morales derweil stark auseinander, die Etiketten reichen von Sozialist, Antikapitalist, Indigenist über Sozialdemokrat, Populist bis autoritärer Antidemokrat.
Also mit der »Bewegung zum Sozialismus« hat Bolivien eine klar sozialistische Regierung. Die ideologische Orientierung des MAS begründet sich in dem Ziel, das Land in eine soziale Volkswirtschaft umzuwandeln. Produktivität, Solidarität und Würde werden in den Mittelpunkt gestellt. Den Bolivianern und Bolivianerinnen soll ihre Würde zurückgegeben werden. Das wollen wir über das »Vivir Bien« (Das gute Leben – d. Red.: ) schaffen. »Vivir Bien« heißt nicht etwa »besser leben«, sondern »gut« leben, und das, indem die bisher ausgeschlossenen Mehrheiten mit eingeschlossen werden, im bolivianischen Fall die Indigenen und Frauen. Diese Idee und die gesamte Ideologie des MAS finden sich in der neuen Verfassung Boliviens wieder, die im Januar 2009 per Volksabstimmung verabschiedet wurde. Und die nicht von einer kleinen Expertengruppe, sondern von einer direkt gewählten Verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeitet wurde.
»Rückgabe von Würde« – was genau meinen Sie damit?
Nun, in der Wirtschaft ist damit in erster Linie der Umgang mit den reichlich vorhandenen Bodenschätzen gemeint. Über die Nationalisierung von Gas und Erdöl im Mai 2006 und die Verstaatlichung strategischer Unternehmen wie der Energiefirma YPFB hat der bolivianische Staat seine Würde und Handlungsfähigkeit zurückbekommen. Nur durch einen starken Staat kann der vorhandene Reichtum umverteilt werden. Auf sozialer Ebene geht es um die persönlichen Rechte der Menschen. Die Rechte der indigenen Völker und der Frauen werden jetzt voll anerkannt. Aber auch sexuelle Rechte wurden neu definiert. Heute wird kein Unterschied mehr gemacht, nach welcher sexuellen Orientierung ein Mensch lebt. Das ist es, was die neue Verfassung sagt. Zentral in dieser Magna Charta und den aus ihr abgeleiteten Gesetzen ist zudem der Prozeß der Entkolonisierung. Damit ist die Überwindung aller Überbleibsel von Rassismus und Diskriminierung gemeint. Daneben steht der Prozeß der Entpatriarchalisierung. Wir erkennen an, daß unsere Gesellschaft von einem System des Patriarchats bestimmt wird. Diese Herrschaft der Männer und den Machismo gilt es zu überwinden. Diese Konzepte sind die Kernelemente der Ideologie des MAS.
Nachdem wir also nach den Wahlsiegen in der Verfassung bestimmt haben, was für ein Land wir genau wollen, befinden wir uns heute in einer Phase, in der auf Regierungsebene die entsprechenden Gesetze ausgearbeitet werden. Wir hoffen natürlich, daß diese ideologischen Zielsetzungen sich bald im Alltag und Leben aller Bolivianer, Männer und Frauen sowie aller 36 Volksgruppen des Landes widerspiegeln.
Können Sie einige der wichtigsten Gesetze nennen, die bisher beschlossen worden sind?
Wir sind schon weit gekommen. Die vier wichtigsten sind die Rahmengesetze zur Neuordnung der Staatsgewalten, also Exekutive, Legislative und Justiz sowie die Norm, welche die Kompetenzen der indigen-kommunitären Rechtsprechung der indigenen Völker festlegt. Hervorheben möchte ich besonders das Gesetz über das Verbot von Gewalt gegen Frauen in politischen Ämtern, was ein großes Problem bei uns darstellt. Auch das Gesetz gegen Menschenhandel ist aus meiner Sicht wichtig. Wir befinden uns also in einem Prozeß der Gesetzgebung, der aus der neuen Verfassung mit seiner neuen ideologischen Ausrichtung geboren wurde und unsere ideologischen Vorschläge in die Tat umsetzen soll.
Nun ist im »neuen« Bolivien viel vom »Prozeß des Wandels« die Rede. Bei einem Wandel wird gewöhnlich von einem »Alten«, das es zu überwinden gilt, ausgegangen.
Das ist natürlich der Neoliberalismus. Wirtschaftlich gesprochen war in Bolivien die gesamte Wirtschaft »liberalisiert«, im direkten Wortlaut für den Markt »befreit« und das ohne Schranken. Alle Staatsfirmen wurden in den 1990er Jahren privatisiert und gingen in die Hand von Multis und Privaten über. Der große Wandel ist also genau der, daß die Bodenschätze und strategisch wichtigen Wirtschaftsunternehmen in Telekommunikation, Bergbau, Wasser, Strom, Zement, Papier usw. zurück unter staatliche Kontrolle gekommen sind oder neu gegründet wurden. Nur so kann aus unserer Sicht der zweite Schritt des Wandels gelingen, nämlich die Schaffung des Sozialstaats über Umverteilung von Reichtum. Das passiert heute über staatliche Zahlungsprogramme. Auf den ersten Blick mögen diese sogenannten Bonos als pure staatliche Fürsorge erscheinen. Doch angesichts des Ausmaßes der Armut in Bolivien sind sie eine unverzichtbare Notwendigkeit.
Nachweislich mit Erfolg. So haben die Vereinten Nationen die Stärkung von Sozialpolitik jüngst als »sehr wichtige Zeit für die Verbesserung der Lebensbedingungen der bolivianischen Bevölkerung« bezeichnet. Attestiert wurde eine »nachhaltige Reduzierung der Armutsrate, Anstieg der Abdeckung von Primar- und Sekundärbildung, Verringerung der Sterblichkeit bei Kindern, die Verbesserung der Ernährungssituation von Kindern sowie ein Anstieg institutionalisierter Geburten als ein Zeichen dieses Fortschrittes«. Die Bonos werden aus dem Staatshaushalt bezahlt, dessen Einnahmen haben sich durch die Nationalisierung der Bodenschätze vervielfacht. Diese »monetär-konditionalen Transferprogramme« (TMC) sind an Bedingungen geknüpft. Welche sind das genau?
Es gibt das Mutter-Tochter-Sohn-Schutzprogramm »Juana Azurduy«. Damit soll die hohe Sterblichkeit bei Geburten verringert werden, wobei eine Frau mit einem Kind, wenn sie während der Schwangerschaft und nach der Geburt zum Arzt geht, innerhalb von 33 Monaten einen Gesamtanspruch auf knapp 260 US-Dollar hat. Der »Juancito Pinto« zahlt jedem Kind, das bis zur achten Klasse die Schule besucht, im Jahr knapp 30 US-Dollar.
Die »Rente der Würde« ist an keine Bedingungen geknüpft. Sie garantiert jedem Bolivianer über 60 Jahre, auch wenn er keine Rentenbeiträge gezahlt hat, eine Mindestrente von 340 US-Dollar im Jahr. Seit der Einführung Anfang 2008 wurden bis Anfang 2012 so bisher fast eine Milliarde US-Dollar Mindestrenten ausgezahlt. Erwähnenswert sind auch all die Programme, um armen Familien den Mindeststandard an Lebensmitteln zur Verfügung zu stellen. Darunter fällt auch die Politik zur Preis- und Exportregulierung. Früher ging der Großteil der Lebensmittelproduktion ins Ausland. Die Unternehmer zogen den Export dem heimischen Markt und der Versorgung der Bevölkerung vor. Heute ist Pflicht: Erst der Binnenmarkt, dann der Export. Auch wenn noch ein weiter Weg vor uns liegt, sagen UNO-Daten: Seit Antritt der MAS-Regierung haben 1,4 Millionen Bolivianer die absolute Armut hinter sich gelassen.
Unverzichtbar für eine funktionierende Wirtschaft ist die Infrastruktur. Reis und Fleisch etwa, die im fruchtbaren Amazonas-Tiefland hergestellt werden, müssen im Andenland, das immerhin dreimal so groß wie Deutschland ist, aber kaum Straßen hat, an den Mann gebracht werden. Heute gibt es heftigen Widerstand gegen den Bau einer Verbindungsstraße, die durch das »Indigene Territorium Nationalpark Isiboro Sécure« (TIPNIS) verlaufen soll.
Lassen Sie mich eines vorweg schicken. Zum ersten Mal wird in Bolivien Politik auch für die ländlichen Regionen gemacht. Heute kommt der Staat in den früher abgeschriebenen Gebieten an. Die große Herausforderung im TIPNIS-Fall ist jetzt, die dort lebenden Menschen zu fragen, ob sie eine Straße wollen oder nicht. Wenn die Mehrheit entscheidet, daß sie keinen Zugang zu Gesundheit, Bildung und Grundversorgung haben will, dann sage ich: Wunderbar. Das ist ihre eigene Entscheidung. Das wichtige ist eine demokratische Volksbefragung. Der aktuelle Protestmarsch gegen den Straßenbau aber richtet sich gegen eine geplante Konsultation. Das ist – finde ich – das antidemokratischste was es eigentlich gibt. Überhaupt ist das Bild vom TIPNIS-Park im unberührten Zustand ein Mythos. Selbst Funktionären des Protestmarsches wurde der illegale Handel mit Tropenholz und Jagd nach seltenen Tieren nachgewiesen. Mehr öffentliche Kontrolle im TIPNIS, auch durch eine Straße, das wäre hilfreich.
Nun wird vom ecuadorianischen Politiker Alberto Acosta heute lautstark der Vorwurf erhoben, Linksregierungen in Ecuador, Venezuela und Bolivien würden einem umweltzerstörerischen Entwicklungsmodell anhängen. Es wird wegen des Festhaltens an Rohstofförderung zur Finanzierung der Sozialprogramme als »Neo-Extraktivismus« gebrandmarkt. Ist das linke Bolivien mehr Umweltsünder als zu neoliberalen Zeiten?
Dafür müßten zuallererst die Umweltschäden wissenschaftlich-empirisch vergleichbar gemacht werden. Sonst reden wir nur in die leere Luft hinein. Fundamentales Prinzip, auch auf internationaler Ebene wie beim jüngsten Rio+20-Gipfel in Brasilien, ist für die MAS-Politik der Schutz der Mutter Erde, der Pachamama. Aber sollen wir es sein, welche die Bodenschätze in der Erde belassen, während der reiche, industrialisierte Norden die Umwelt weiter schädigt? Es muß uns doch erlaubt sein, Mutter Erde rational und nachhaltig für eine ausgeglichene Entwicklung zu nutzen. Das ist eine Frage globaler Gerechtigkeit. Seit dem Kyoto-Klima-Abkommen 1997 – wer hat seine Verpflichtungen zur Reduzierung der CO2-Emissionen eingehalten? Die entwickelten Länder waren das sicher nicht. Ich erinnere mich da an eine alte Karikatur, die das Verhältnis zwischen Norden und Süden auf den Punkt bringt: Gutgenährte Menschen im Norden rufen »Kein Ozon!« Was ein Kind im Süden mit einem Wort erwidert: »Hunger!« Darum glauben wir auch nicht an den CO2-Emissionshandel.
Wir sollen hier Naturparks und Reservate schaffen. Während der Norden die Umwelt weiter verpestet, sterben wir vor Hunger, nur weil wir die »Lunge der Menschheit« bewahren sollen. Das ist doch ungerecht. Das Problem der Erderwärmung muß von den Industrieländern gelöst werden. Sie sind die größten Verschmutzer, haben aber auch die Technologien zum Gegensteuern. Worum es also geht: Wir brauchen die Bodenschätze, um gut und in Würde leben zu können. Entlegene Gemeinden wie im TIPNIS haben das Recht auf Strom, Trinkwasser und Fortschritt. Sie sind es, die entscheiden, ob sie weiter auf den Bäumen leben wollen. Es kann aber nicht angehen, daß wir in den Städten die Ökofahne schwenken zu Lasten der Menschen auf dem Land.
2014 wird in Bolivien wieder gewählt. Was hat die Opposition im Lande zu bieten?
Für jede Demokratie ist Opposition wichtig. Vielfalt der Meinungen und Vorschläge sind gesund. Leider haben wir keine konstruktive politische Gegenkraft, die der Regierung hilft, ihre Politik zu verbessern. Wir glauben ja nicht, daß wir die Wahrheit gepachtet haben. Mangels eigener Alternativen hängt sich die Rechte – es sind zum Großteil recycelte Parteien aus Vorgängerregierungen – an jede gesellschaftliche Forderung und verzerrt sie, wie im Fall TIPNIS oder beim jüngsten Polizeiaufstand. Im Ausland kommt oft nur die Sicht der destruktiven Opposition an. Das verwundert nicht, Massenmedien und Agenturen befinden sich in der Hand von Regierungsgegnern. Dieses Zerrbild von Bolivien möchte ich in meiner Berliner Amtszeit gern korrigieren.
Interview: Benjamin Beutler
* Aus: junge Welt, Samstag, 21. Juli 2012
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