Oder???
Das Urteil. Am Anfang stand eine Verheißung. Wir wollen „das Grundgesetz in die Zeit stellen“, verkündete der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, im Juni. Vor der Karlsruher Richterbank stritt man gerade heftig darüber, ob einer deutschen Muslimin afghanischer Herkunft die Einstellung als Lehrerin in den Staatsdienst verweigert werden darf, weil sie darauf besteht, auch im Unterricht ein Kopftuch zu tragen.
Am Ende steht eine bittere Enttäuschung. Die sechs Männer und zwei Frauen des Zweiten Senats haben in dieser Woche mit fünf gegen drei Stimmen ein ängstliches, kleinmütiges – und unzeitgemäßes Urteil gefällt. Fereshda Ludinhat zwar Recht bekommen, aber nur, weil die baden-württembergischen Gesetze – dort spielt der Streit – für ein vorbeugendes Kopftuchverbot nicht ausreichen. Dieses Versäumnis kann das Landesparlament in Stuttgart aber schnell nachholen. Und dann steht einem strikten Nein zum Kopftuch nichts mehr im Weg.
Die Richter waren zu feige, den Streit zu entscheiden. Schlimmer noch: Sie haben der Muslimin die Klärung ihrer Rechte verweigert. Was nun schwerer wiegt, die Religionsfreiheit von Ludin oder die Neutralitätspflicht der Schule, das Elternrecht und das Recht der Kinder, von Missionierungen verschont zu bleiben – das bleibt im Dunkeln. Soll doch bitte schön das Parlament entscheiden! So wenig Richtermut war nie.
Für die roten Robenträger in Karlsruhe scheint jede Lösung möglich. Mal hü, mal hott, sagen sie: Natürlich dürfe man die religiöse Vielfalt, also auch das Kopftuch, in der Schule aufnehmen, um Toleranz zu fördern. Und im nächsten Satz sagen sie das Gegenteil: Ebenso gern dürfe man das Kopftuch in der Schule verbieten, damit es erst überhaupt nicht zu Konflikten mit Schülern und Eltern komme. Vorgaben? Wegweiser? Nein, die Bundesländer dürfen es künftig halten wie die Dachdecker. Jeder soll nach seiner Façon glücklich werden.
Die Stimmungslage. Von wegen „das Grundgesetz in die Zeit stellen“. Das höchste Gericht hinkt der Wirklichkeit hinterher, die Gesellschaft ist längst fortgeschritten.
Natürlich erzürnt das Kopftuch immer noch. Aber die große Mehrheit mag sich nicht mehr darüber erregen. Aus Desinteresse gegenüber der Religion, wie einige meinen? Aus Apathie oder Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen? Die Zahlen sprechen dagegen. Fünf Jahre öffentlicher Streit, fünf Jahre Gerichtsprozesse haben die Meinung gewandelt. Sagten die meisten noch 1998, als der Fall Ludin aufkam, nein zum Kopftuch in der Schule, antworten sie heute mehrheitlich mit Ja. Und zwar knapp 85 Prozent, allerdings nicht repräsentativ, wie eine Umfrage der ARD vom August ergab.
Selbst die großen christlichen Kirchen plädieren für Gelassenheit und ergreifen sogar Partei für die Muslimin Ludin. Helga Trösken, evangelische Pröpstin für Rhein-Main, schrieb bereits 1998: „Hätte eine muslimische Lehrerin mit Kopftuch in der öffentlichen Schule nicht die Möglichkeit, das Signal so positiv zu deuten, dass ein aufgeklärter Dialog möglich wird, wie er gerade den öffentlichen Institutionen in unserem Land gut täte? Im weltanschaulich neutralen Staat würde dann vielleicht auch deutlich, dass neben den großen christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinschaft inzwischen die drittgrößte Religionsgemeinschaft zwar da und sichtbar ist, tatsächlich aber im Namen der Neutralität diskriminiert wird.“ Solche deutlichen Worte hätte man sich auch aus Karlsruhe gewünscht.
Das Kopftuch. Zwei Schritte vor, einen zurück – die Richter trauen sich nicht, das Stück Stoff zeitgemäß zu deuten. Sonst hätten sie sich am Ende noch entscheiden und die fromme Tracht im Fall von Fereshda Ludin akzeptieren müssen.
Es stimmt alles, was gegen das Kopftuch gesagt wird. In vielen islamischen Ländern ist der Verhüllungszwang auch ein politisches Kampfmittel und ein Symbol der Unterdrückung. Selbst in Deutschland werden Mädchen und junge Frauen von ihren Vätern, von ihren Brüdern, von Geistlichen genötigt, ihr Haar zu bedecken. Setzen sie sich zur Wehr, werden sie schikaniert, eingesperrt, geschlagen. Es gibt schreckliche Schicksale. Das ist die eine, die dunkle Seite des Kopftuchs. Sie verstößt gegen die Menschenwürde.
Es gibt aber ebenso die andere, die helle Seite – und sie ist Ausdruck der Menschenwürde: Eine wachsende Zahl von Muslimen legt die Tracht freiwillig an, weil sie sich wie Christen mit dem Kreuz oder Juden mit der Kippa offen zu ihrer Religion bekennen wollen. Weil die Haarbedeckung Identität stiftet und die Selbstachtung stärkt. Viele muslimische Frauen glauben, sich mit verhülltem Haar in fremder Umgebung freier bewegen zu können. Kopftuchträgerinnen sind hierzulande längst nicht mehr bloß eingeschüchterte, eingepferchte, unterdrückte Kreaturen. Viele von ihnen sind gebildete, aufgeklärte, moderne Frauen. Sie arbeiten als Computerexpertinnen, bei der Post, in Versicherungen oder, wenn sie dürfen, auch als Lehrerinnen.
Ohne Zweifel – das Kopftuch ist auch in Deutschland ein mehrdeutiges Symbol. Aber allein deshalb wiegt die dunkle Seite nicht schwerer. Schon gar nicht im Fall Ludin. An ihrer freiheitlichen Gesinnung hegt niemand Zweifel, nicht einmal im baden-württembergischen Kultusministerium. Die platte Formel „Kopftuch gleich Unterdrückung der Frau gleich Islamismus gleich Bedrohung von Freiheit und Demokratie“ greift nicht mehr. Es kommt nicht auf das Tuch an, sondern darauf, was darunter steckt. Maßgeblich sind der Einzelfall und seine Beweggründe – und nicht allein, wie es das Gericht sagt, die Wirkung auf den Betrachter.
Die Schule. Die Karlsruher Richter haben ein veraltetes Bild davon, was Schule und Lehrer heute leisten müssen. Im Kern halten sie daran fest, was das Bundesverwaltungsgericht Mitte der achtziger Jahre festlegte: Gerade in einer bekenntnisfreien staatlichen Schule dürften Lehrer im Unterricht ihre persönliche Weltanschauung nicht demonstrieren. Zum einen, weil die Schüler wegen der Schulpflicht dieser Demonstration nicht entrinnen könnten. Zum anderen, weil die Erziehung der Kinder Elternrecht sei. Die Schule als keimfreier Raum, immun gegen äußere Einflüsse? Da ist sie wieder, die verflixte Schattenseite des frommen Tuchs, die tief sitzende Angst vor dessen suggestiver Kraft. Warum existiert sie nur beim Kopftuch und nicht beim Kreuz an der Halskette, bei der Kippa des Juden, dem Rauschebart eines Muslims? Sind diese äußeren Zeichen über jeden Zweifel erhaben?
Wären wir wie Frankreich ein laizistischer Staat, wären alle religiösen Symbole aus dem staatlichen Raum verbannt, gäbe es den Kopftuch-Streit nicht. Das Neutralitätsgebot der Schule und ihrer Lehrer aber geht nicht so weit – und das ist auch gut so, denn das Gebot ist viel zeitgemäßer als der strenge Laizismus. Neutralität, das hätten die Richter sagen müssen, bedeutet lediglich angemessene Zurückhaltung: Sie verbietet Missionierung, Indoktrination und Bevorzugung eines Glaubensbekenntnisses. Mehr nicht. Ansonsten lässt sie den vielfältigen Glaubensformen und Meinungen freien Lauf. Sie aus dem Klassenzimmer zu verbannen erzeugt nicht Neutralität, sondern Sterilität. Außerdem: Zum Bildungsprozess gehört nicht nur die abstrakte Debatte über Religionen, sondern ebenso die konkrete Auseinandersetzung mit der gelebten Religiosität der Erziehenden. Je intensiver, je offener, desto besser. Die Kinder sollen den Anderen nicht anstarren, weil er fremd ist, sondern lernen, dass er mitten unter ihnen lebt. Auch die Lehrerin mit dem Kopftuch gehört dazu. Vor möglichen Grenzüberschreitungen schützen Schulaufsicht und Disziplinarrecht.
Die Herausforderung. Multikulturalität ist das Schicksal aller modernen Länder – und sie ist unumkehrbar. Will sich die liberale Gesellschaft nicht selbst aufgeben, muss sie sich vor falscher Duldsamkeit schützen. Gleichgültigkeit kann gefährlich sein. Nur ist das Kopftuch dafür nicht der richtige Streitpunkt. Der wirkliche Konflikt bricht an anderen Stellen auf: dort, wo man verdrängt, dass Mädchen nicht mit auf Klassenreise gehen dürfen und zwangsweise verheiratet werden. Dass unter türkischen Jugendlichen unverhältnismäßig viele Schulabbrecher und Gewalttäter sind. Dass sich in vielen Städten bedenkliche Parallelgesellschaften entwickeln, die sich abschotten, nach eigenen Gesetzen leben und für Grundwerte wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau bloß Verachtung übrig haben.
Die Kopftuchträgerin Fereshda Ludin verkörpert das genaue Gegenteil. Sie ist bereits Teil der aufgeklärten Gesellschaft und will in ihr als Lehrerin mitwirken. Die Chance sollte sie haben – überall und ohne jeden Vorbehalt.
(c) DIE ZEIT 25.09.2003 Nr.40
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