Bis vor zwei Jahren leitete Rolf Scharmacher , 57, eine Förderschule in Hamburg-St. Pauli. Er kämpfte einfallsreich gegen viele der Probleme, über die derzeit diskutiert wird. Eine Nachhilfestunde für Lehrer und Politiker. Von Marian Blasberg DIE ZEIT: Herr Scharmacher, bevor Sie Oberschulrat wurden, waren Sie 18 Jahre lang Schulleiter einer Förderschule in Hamburg-St. Pauli. Die Probleme, die in den vergangenen Wochen am Beispiel der Rütli-Schule diskutiert wurden, dürften Ihnen vertraut sein? Rolf Scharmacher: Klar, das kenne ich alles, gewalttätige Schüler, Störenfriede, frustrierte Lehrer. Klassen, in denen siebzig Prozent Ausländer sitzen. Schüler, die früh Gewalt erfahren haben. Je früher dies geschieht, desto schwerer ist es, diese Fehlentwicklung wieder wegzutherapieren. Das alles aber scheint mir nicht so sehr eine Frage des Kulturkreises zu sein, aus dem die Eltern stammen, als vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Schicht. ZEIT: Herr Stoiber irrt also, wenn er nun fordert, Migrantenkinder auszuweisen, falls die sich nicht besser integrieren? Scharmacher: Das greift daneben und ist, wie so vieles, was in diesen Tagen angeregt wird, Populismus. Es ist doch niemandem geholfen, wenn Kindern, die einen Sprachtest nicht bestehen, der Zugang zur Grundschule verwehrt wird. ZEIT: Was hilft denn weiter? Scharmacher: Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin durchaus der Meinung, dass die Beherrschung unserer Sprache über das Gelingen von Integration entscheidet. Ich halte es in diesem Zusammenhang für unerträglich, dass in manchen Grundschulklassen dreißig Kinder sitzen, während sich auf dem Gymnasium Achtergruppen über altgriechische Verse beugen. ZEIT: Sie hadern mit der Politik. Scharmacher: Schon. Aber im Grunde will ich sagen, dass man etwas tun kann, in den Schulen, auch unabhängig von der Politik. ZEIT: Was haben Sie dann damals an Ihrer Schule unternommen? Scharmacher: Das fängt beim Ambiente an. Nehmen Sie das Schülerklo, eigentlich ein Ort des Grauens, wo die Schüler rauchen und ihren Frust an Klodeckeln und Türen ablassen. Wir haben da kontrolliert und die Vandalen zur Beseitigung der Schäden einbestellt. Einmal haben wir einen Schmierer identifiziert, der überall mit seiner Spraydose unterwegs war. Ich habe gar nicht groß Krawall gemacht, ich habe ihm bloß vorgerechnet, was es kosten würde, das reinigen zu lassen, und dann wollte er es lieber selber machen. Der Hausmeister besorgte ihm ein Mittel, das sinnigerweise noch Vandal-Ex hieß, und mit Hilfe seines Bruders hat er dann eine Stunde lang geschrubbt. Der Junge hat nie wieder mit Graffiti gearbeitet. ZEIT: Er hatte Angst. Scharmacher: Nein, ich glaube, er hat eingesehen, dass man sich anständig verhalten muss. ZEIT: Ist man als Lehrer eine Art Ersatzvater? Scharmacher: Für viele unserer Kinder ist die Schule ja das heilste Umfeld ihres Lebens. Wir kümmern uns selbst darum, dass sie zum Zahnarzt gehen. Aber wir sollten es mit der Nähe auch nicht übertreiben. Den Altersunterschied und die Zugehörigkeit zu einer anderen Schicht durch Kumpelei zu überwinden, halte ich für falsch. ZEIT: Wie verhält man sich, wenn ein Schüler dieses Verhältnis auf die Probe stellt, indem er die Vorschriften ignoriert und weiter Klos beschmiert? Scharmacher: Es kommt darauf an, konsequent zu handeln. Es gibt klare, verbindliche Richtlinien, die auch Sanktionen vorsehen, und wenn wir unsere Autorität behalten wollen, dann müssen wir die sorgsam durchsetzen. Und wir sollten auch die Eltern nicht vergessen, die richtigen; Ersatzeltern sein heißt ja nicht, dass die völlig aus dem Spiel sind. Es ist sehr wichtig, den Eltern klar zu machen, dass man im selben Boot sitzt. Vertrauen zu den Eltern aber baut man nur auf, wenn man regelmäßig den Kontakt hält. Sucht man sie nur dann auf, wenn es Stress gibt, machen sie die Ohren zu und solidarisieren sich auf eine manchmal ziemlich irrationale Art mit ihren Kindern. ZEIT: Was machen Sie mit Eltern, die sich sperren? Scharmacher: Auch hier gilt: Konsequent und hartnäckig sein. Ein Beispiel. Wir hatten einen Schüler, der klaute wie ein Rabe. Seine Mutter war verzweifelt. Als alles nichts mehr half, haben wir ihm eine Nachmittagsbetreuung organisiert. Aber die Mutter wollte das nicht. Es hatte für sie was Diskreditierendes. Wir sind dann so oft bei ihr aufgelaufen, bis sie sich dazu bewegen ließ, einmal zu der Nachmittagsbetreuung mitzukommen. Sie guckte da zu und merkte, dass das alles gar nicht schlimm ist. Ihr Junge hat das Klauen später zwar nicht völlig aufgegeben, aber die Zeiten, wo er Beute machen konnte, hatten sich doch reduziert. ZEIT: Wie reden Sie mit Eltern, die eine andere Sprache sprechen? Scharmacher: Wir hatten das Glück, zwei Lehrer mit Migranten-Hintergrund zu haben, die in solchen Fällen oft vermittelten. Es gab mal ein Problem mit einem jungen Türken, der hatte keine Lust, während der Werkstatttage in die Berufsschule zu gehen, und sein Vater unterstützte das, er meinte, der Junge sollte lieber Mathe lernen, anstatt in der Werkstatt rumzuhängen. Da haben wir dem Vater dann ruhig erklärt, dass der Werkstatttag bei uns zum Unterricht gehört. Er sah das ein, und seitdem hat sein Sohn kaum noch geschwänzt. ZEIT: So leicht dürfte es nicht immer sein, die Schwänzer zu bekehren? Scharmacher: O nein, das ist ein echtes Problem. Und ich glaube, dass wir uns das Leben sehr erleichtern würden, wenn wir das Kindergeld an den Schulbesuch koppeln würden. Die Eltern würden viel mehr Druck ausüben, deshalb bin ich sicher, dass sich die Anwesenheitsquote stark erhöhte. ZEIT: Was aber, wenn die Politik nichts tut? Scharmacher: Da hilft dann oft nur noch Generve. Anrufen, vorbeischauen. Als ich noch Lehrer war, gab es eine Familie, die morgens gerne mal verschlief. Die Kinder wachten häufig erst um zehn Uhr auf, sie dachten, es hat keinen Zweck mehr, in den Unterricht zu gehen, es war ihnen peinlich. Also blieben sie zu Hause. Die Familie wohnte allerdings so nah, dass ich in der Pause hingehen konnte. Und dann stand ich vor der Tür und hab geklingelt und am Briefkasten geklappert, bis sich drinnen etwas tat. Ich rief dann: Ihr habt zehn Minuten, ich gucke auf die Uhr, und als sie kamen, hatten sie sogar ein Butterbrot dabei. ZEIT: Diese Methode lässt sich wohl nur in Einzelfällen anwenden. Scharmacher: Ja klar, aber man muss sich auch was einfallen lassen. Andere Kollegen schenkten Schülern Wecker, nicht zum Spaß oder damit sie keine Ausrede mehr hatten, sondern aus Notwendigkeit. Weil die so was nicht besaßen! ZEIT: Viele Schüler stehen auch nicht auf, weil sie sich fragen, was sie in der Schule sollen. Was sagen Sie dem Schüler, der zu Ihnen kommt und fragt: Warum soll ich meinen Abschluss machen, wenn ich danach eh nichts finde? Scharmacher: Ich frage ihn erst mal, in welche Richtung er denn gehen will. Und wenn er sagt, ich würde gerne Automechaniker werden, dann sage ich: Da hast du Recht, da kriegst du keine Stelle. Danach versuche ich, ihn umzulenken, ich zeige ihm, in welchen Branchen seine Chancen größer wären. Und abgesehen davon, ist es Aufgabe der Schule, die Jugendlichen frustdurabel zu machen. Es hinzukriegen, dass einer nicht nach fünf Bewerbungsschreiben aufgibt, sondern es noch fünfzigmal versucht. Wir müssen ihnen beibringen, dass nicht nur ihr Traumberuf ein Ziel ist, sondern Beschäftigung an sich. ZEIT: Ist es heute Aufgabe der Lehrer, ihre Schüler zu desillusionieren? Scharmacher: Gewissermaßen ja. Ich denke, man sollte sich verabschieden von dem Gedanken, dass jeder einen Hauptschulabschluss haben muss. Viel wichtiger als die so erworbene Ausbildungsreife scheint mir zu sein, dass die Schüler die Betriebsreife erlangen. Dass sie während ihrer Schulzeit lernen, was am Arbeitsplatz gefordert wird, Sozialverhalten, Tugenden wie Pünktlichkeit und Höflichkeit und Fleiß. Darauf stellen mittlerweile nicht nur viele Förderschulen ihr Lehrangebot ab, sondern auch immer mehr Hauptschulen. Das heißt, dass das klassische Betriebspraktikum, bei dem man drei Wochen lang in irgendeiner Firma rumhühnert und Pfandflaschen entsorgt, abgelöst wird von regelmäßigeren Praxistagen. Zwei Tage die Woche verbringen die Schüler im Betrieb, also beim Klempner um die Ecke, beim Maler oder an der Tankstelle, und nach einem halben Jahr wechseln sie die Branche. Am Ende haben sie ein reicheres Portfolio, und das verbessert ihre Aussichten am Arbeitsmarkt enorm. ZEIT: Übernehmen die Betriebe dann? Scharmacher: Das hat es schon gegeben, wenn auch selten. Entscheidend aber ist, dass Jugendliche, die es gar nicht kennen, dass einer in der Familie sein Geld mit Arbeiten verdient, das Arbeitsleben einmal live und in Farbe kennen lernen. Die Schüler interessieren sich dann auch mehr für den Unterricht. Sie merken, dass es doof ist, wenn man den Taschenrechner nicht bedienen kann. Es ist interessant: Die Abschlüsse der Förderschüler mit Betriebstagen waren zuletzt besser als die der Hauptschüler ohne Betriebstage. ZEIT: Die klassischen Bildungsinhalte spielen demnach eine immer geringere Rolle? Scharmacher: Absolut. Aber wenn man sich mal ansieht, wie viel Quatsch da zum Teil unterrichtet wird, ist das auch gar nicht so verkehrt. Ich selbst hatte mir als junger Lehrer so eine tolle Sammlung aufgebaut mit Materialien zum Thema Magnetismus. Das war alles Unsinn, überflüssig. Im Unterricht mit Eisenspänen am Stabmagneten die Magnetwellen zu verfolgen – das ist nur Zeitverschwendung. Wichtig ist, dass es Magneten gibt, die Türen festhalten. Und das Gleiche in Biologie: Es ist sinnlos, den anatomischen Aufbau des Auges durchzunehmen. Wichtig ist, dass sie lernen, dass das Auge ein empfindliches Organ ist, das man an einem Arbeitsplatz, an dem es spritzt und splittert, mit einer Brille schützen muss. Genauso mit dem Ohr. Wichtig ist: Gehörschutz tragen. Die höchste Invaliditätsursache in unserer Gesellschaft sind Gehörschäden. Aber ich habe nicht den Ehrgeiz, Jugendlichen ihren Walkman, oder wie heißen die Dinger, die man heute auf den Ohren trägt… ZEIT: MP3-Player. Scharmacher: Ja. Das ist illusorisch, denen das abgewöhnen zu wollen. ZEIT: Sind die Lehrer heute vielleicht nicht mehr richtig ausgebildet? Scharmacher: Nicht unbedingt. Aber gerade die Kollegen an den Grund- und Hauptschulen benötigen ein ordentliches Maß an Ausbildungselementen aus der Sonder- und Sozialpädagogik. Und viele machen meiner Meinung nach den Fehler, dass sie die Schüler überfordern. Sie sind zu ungeduldig. Anstatt in kleinen Schritten vorzugehen, versuchen sie zu oft den einen großen Sprung, der aus einem Schüler gleich den aufgeklärten Bürger macht. ZEIT: Noch mal zum MP3-Player. Mich wundert, dass Sie den nicht kannten, und ich frage mich, ob Sie zum Beispiel wissen, welche Musik auf diesen Dingern heute läuft? Scharmacher: Das ist ja unvermeidbar, dass man das mitbekommt. An unserer Schule hören die meisten Schüler HipHop. Mir reicht es, wenn ich weiß, dass es das gibt. Meine Eltern haben sich ja damals auch nicht dafür interessiert, ob ich jetzt Mod war oder Rocker, und geschadet hat mir das nicht. Das Gespräch führte Marian Blasberg DIE ZEIT 20.04.2006 Nr.17 17/2006 AN
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