Das LETZTE zuerst Rückkehr zur Nation?
Von Harald Neubauer
Im Jiddisch-Hebräischen nennt man es Chuzpe: Wieder einmal beklagen sich Politiker über Probleme, die es ohne sie gar nicht gäbe. Ausgerechnet SPD-Chef Franz Müntefering, sonst Sänger der Internationale, plädierte jetzt in einer Grundsatzrede für die Wiederherstellung nationalstaatlicher Handlungshoheit. Er geißelte die "totale Ökonomisierung" des öffentlichen Lebens, die Machtgier kapitalistischer "Global Player". Der Staat dürfe den weltweiten "Profit-Maximierungs-Strategien" nicht weiter nachgeben, weil sonst die Demokratie gefährdet werde. Ausnahmsweise trifft Müntefering den Nagel auf den Kopf. Bislang haben uns die SPD-Vorarbeiter nur kräftig auf den Daumen gehämmert. Der Erhalt deutscher Staatssouveränität erschien ihnen als reaktionärer Mumpitz. Sie rissen die Schlagbäume nieder, öffneten die "Märkte", beseitigten nationale Schutzmechanismen, setzten die einheimische Wirtschaft globalem Vernichtungswettbewerb aus. Nichts davon geschah durch Schicksalsfügung, alles unterlag politischer Steuerung. Wer dagegen zu opponieren wagte, wurde an den Medienpranger gestellt - als provinzieller Holzkopf. Nicht nur Müntefering scheint aus jahrzehntelangem Fieberwahn zu erwachen. Auch sein Kanzler spricht plötzlich Sätze, die gestern noch als nationalistisch und fremdenfeindlich galten: "Wir können nicht zulassen, daß es Leute gibt, die Arbeiter aus dem europäischen Ausland holen, sie für ein paar Kröten arbeiten lassen und damit gesunde deutsche Betriebe kaputtmachen", tönte Gerhard Schröder auf einer Wahlveranstaltung in Nordrhein-Westfalen. Da bleibt einem die Spucke weg. Hatte nicht der Arbeiter-Import bis zur Stunde den Segen aller hierzulande Verantwortlichen? Durfte man überhaupt einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Einwanderung herstellen? Nein, hieß es allenthalben, das eine habe mit dem anderen überhaupt nichts zu tun; kein Deutscher müsse wegen hereinströmender Ausländer um seinen Job bangen. Im Gegenteil. Erst Zuwanderung halte unsere Wirtschaft auf Trab, sichere die Sozialsysteme, mache das Land wohlhabend. Ungläubige wurden beim "Aufstand der Anständigen" nach Strich und Faden vermöbelt. Sind Leute wie Schröder und Müntefering klüger geworden? Wohl kaum. Sie suchen einen Sündenbock. Aber nicht der Wirtschaft, sondern der Politik obliegt seit eh und je die Schaffung eines gemeinnützigen Ordnungsrahmens. Er wurde spätestens gesprengt, als man die EU auf Staaten ausweitete, deren Sozialstandards deutlich unter westeuropäischem Niveau liegen. Und der Irrwitz geht munter weiter: Just am selben Tag, an dem Müntefering nationale Interessen entdeckte, entschied das Europaparlament samt SPD-Stimmen, im Jahr 2007 auch noch Bulgarien und Rumänien in die EU aufzunehmen. Bis dahin werden beide Länder mit 40 Milliarden Euro aufgepäppelt. Hauptsächlich aus deutschem Portemonnaie. Die Arbeitslosenquote in Bulgarien liegt bei knapp 20 Prozent. Allein Rumänien wird das Kontingent osteuropäischer Billigarbeiter in der Gemeinschaft um ein Viertel vergrößern. Die Klage über tschechische und polnische Lohndrücker entpuppt sich damit als Heuchelei, abgezielt auf Wähler, die nicht wissen, daß die nächste Erweiterungsrunde schon eingeläutet wurde. Und was soll man von gesetzlichen Mindestlöhnen halten? Unternehmen, die sich im globalisierten Wettbewerb behaupten müssen, werden ihre Fabriken sukzessive dorthin verlagern, wo die Kosten am niedrigsten sind. Dieser Prozeß hat gerade erst begonnen. Wer ihn beschleunigen will, braucht nur dafür zu sorgen, daß Polen und Rumänien, China und Indien für Wirtschaftsinvestitionen noch attraktiver werden. Längst müßte etwas anderes auf den Prüfstand: das von David Ricardo im 19. Jahrhundert ausgebrütete Freihandelsdogma. Arbeitsteilige Weltproduktion setzt unterschiedliche Stärken und Schwächen voraus. Heute aber stellen auch Länder, die gestern noch mit Glasperlen oder Bananen handelten, Autos und Computer her. Wissensvorsprünge lassen sich nicht mehr dauerhaft verteidigen. Und was nützen höhere Forschungsausgaben, wenn die daraus entwickelten Produkte aus Kostengründen im Ausland gefertigt werden? Sagen wir es unumwunden: Das ganze System ist verkorkst. Mit Placebos, Hartz IV und weißer Salbe kann man womöglich noch den einen oder anderen Wähler nasführen, nicht aber das Land vor dem wirtschaftlichen und sozialen Niedergang bewahren. Müntefering hat recht: Nationalstaatliche Daseinsfürsorge ist unentbehrlich. Doch was nützen Sonntagsreden, wenn werktags in ganz andere Richtung gefahren wird? Vielleicht ziehen die Franzosen in letzter Minute die Notbremse. Am 29. Mai stimmen sie über die EU-Verfassung ab. Es wird auch für uns Deutsche ein Schicksalstag sein.
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