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.IM "Irina" meldet Geschlechtskrankheit
Auch Ärzte arbeiteten für die Stasi. Sie bespitzelten nicht nur ihre Patienten, sondern vor allem die Kollegen
Von Reiner Burger
Leipzig. Der Inoffizielle Mitarbeiter (IM) "Irina" war eine sprudelnde Quelle. Die Fachmedizinerin reichte selbst intimste Details an die DDR-Staatssicherheit weiter. 1982 berichtete sie von einer Frau, die an einer Geschlechtskrankheit litt. Als Intimpartner habe die Patientin einen Mann aus Köln angegeben. "Sie ist eine sog. ,Edelnutte', sehr attraktiv, tizianrotes Haar, große Ohrringe, trägt extravagante Kleidung, so z.B. zur Untersuchung ein weißes Strickkleid, goldene Schuhe und goldener Gürtel." Auch eine weitere Patientin von IM "Irina" galt der Stasi als "operativ relevante Person". Die Frau saß 1982 in einer Haftanstalt, wo IM "Irina" sie untersuchte. Umgehend berichtete die Ärztin an ihren Führungsoffizier, die Frau leide zum wiederholten Mal an einer Geschlechtskrankheit und habe selbst wenig Hoffnung, nach ihrer Entlassung wieder einen "ordentlichen Lebenswandel" zu führen. In der Stasi-Akte von IM "Irina" füllen die Berichtsordner mit Auskünften über Patienten 470 Seiten.
Rund 500 IM-Ärzte hat die Historikerin Francesca Weil, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung tätig ist, für die erste systematische Studie über die Stasi-Verstrickung von DDR-Medizinern in der Leipziger Außenstelle der Birthler-Behörde unter die Lupe genommen. Die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung haben die soeben unter dem Titel "Zielgruppe Ärzte" erschienene Untersuchung finanziert. Zwar fand Francesca Weil heraus, dass die Mehrheit der Ärzte nicht der SED angehörte und sich auch nicht mit der Stasi einließ. Zugleich bestätigt ihre Studie aber frühere Forschungsergebnisse, wonach zwischen drei und fünf Prozent der Mediziner im "sozialistischen Deutschland" für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) spitzelten. "Das ist eindeutig höher als die Quote für die Gesamtbevölkerung. In den achtziger Jahren gab es wohl kaum eine größere Einrichtung des Gesundheitswesens mehr, in der das MfS keinen IM hatte."
Hauptmotivation für die Stasi, sich ein eigenes IM-Netz unter Medizinern aufzubauen, war nicht, Erkenntnisse über Patienten zu gewinnen. Etwa neunzig Prozent der IM-Ärzte setzte die Stasi auf Berufskollegen an, um etwa Fluchtversuche von Medizinern zu unterbinden. Zudem galten Ärzte der Staatsführung schon wegen ihres Standesbewusstseins als suspekt. Auch Ärzte sollten sich dem Herrschaftsanspruch der SED unterordnen. Dafür galt es, politische Haltungen, berufliche Kompetenzen und persönliche Belange auszuforschen. "Philatelist" etwa denunzierte 1955 Kollegen als "ausgesprochene Gegner der DDR".
Wie IM "Irina" gab beinahe jeder dritte Mediziner in Stasi-Diensten aber auch Informationen über Patienten preis. "Von Einzelfällen kann nach dem neuesten Kenntnisstand nicht mehr die Rede sein." Sie habe in viele Abgründe gesehen, berichtet Historikerin Weil. ",Irina' etwa reichte Wissen zu mehr als tausend Personen weiter. Damit konnte die Stasi die Betroffenen erpressen."
Welche Folgen eine ärztliche Denunziation mitunter hatte, zeigen die Fälle "Karl Schönherr" und "Spitze". Durch den Hinweis des Psychiaters IM "Karl Schönherr" konnte 1983 die Republikflucht einer seiner Patientinnen vereitelt werden. Die Frau wurde zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. "Karl Schönherr" erhielt 400 Mark Prämie. IM "Spitze" - ein Radiologe - hatte schon 1981 einen entscheidenden Tipp gegeben. Ein von ihm verratener Mann konnte samt Familie "beim Versuch des ungesetzlichen Verlassens der DDR" verhaftet werden, wie es in der Akte heißt. "Spitze" erfuhr - eher ungewöhnlich - inoffiziell über seinen Führungsoffizier von seinem Anteil am "Erfolg". "Dieser Schachzug der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter musste ,Spitze' aber auch vor Augen geführt haben, in welche Zwänge er sich selbst gebracht hatte. Häufig gerieten IM durch ,Erfolge' ihrer Tätigkeit in eine immer größere Abhängigkeit, aus der sie sich nur schwer befreien konnten", sagt Francesca Weil.
Viele der IM-Ärzte profitierten in großem Umfang von ihrer Spitzelei. IM "Irina" erhielt 200 Mark monatlich. "Dr. Hans Walther" strich in 18 Jahren mehr als 28 000 Mark ein. "Philatelist" bat 1986 aus Anlass seines "runden Geburtstags" um Hilfe bei der Beschaffung eines Pkw "Peugeot". Gelegentlich wunderten sich die Führungsoffiziere über die Maßlosigkeit, wussten ihre IM aber damit über Jahre an sich zu binden. In anderen Fällen setzte die Stasi gezielt Gerüchte ein, schürte bewusst Angst oder erpresste Ärzte. Eine Allgemeinmedizinerin warb die Stasi 1975 laut Akte auf der "Basis der Wiedergutmachung". IM "Sabine" saß wegen "staatsfeindlicher Hetze" (sie hatte kritische Flugblätter transportiert) in Haft. Man drohte damit, ihr das Sorgerecht für ihren Sohn zu entziehen, falls sie sich nicht auf eine MfS-Mitarbeit einlasse.
Anders als die meisten ehemaligen IM-Ärzte, die wie "Irina" nach der Wende einfach eine eigene Praxis eröffneten oder im öffentlichen Dienst im Westen tätig wurden, konnte sich IM "Sabine" einer Überprüfung nicht entziehen, weil sie Anfang der neunziger Jahre Vorstandsmitglied einer Landesärztekammer wurde. Zwar bescheinigte ihr die Stasi-Unterlagenbehörde, erpresst worden zu sein - ihren Posten musste sie dennoch räumen. Von den 21 IM-Ärzten, die sich von Francesca Weil befragen ließen, gehört sie zu den lediglich sechs, die sich klar mit der eigenen Schuld auseinandersetzen.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.11.2007, Nr. 47 / Seite 6
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