Satiriker über die Krankheiten der iranischen Gesellschaft
MEMRI Special Dispatch - 21. Juni 2006
Der im Exil lebende Ebrahim Nabavi [1] gehört zu den bekanntesten Schriftstellern des Iran. Bevor Nabavi ins Exil ging, wurde er mehrfach wegen seiner satirischen Artikel verhaftet. Nach seinen Angaben schreibt er seit über 20 Jahren für iranische Zeitungen und Zeitschriften und lebt seit Juli 2005 in Belgien. Berühmt wurde er im Iran durch seine "fünfte Kolumne" in der inzwischen verbotenen Zeitung Jame´eh. In den letzten Jahren schreibt er täglich Artikel für große internationale Internetzeitungen wie Rooz und BBC Persian. Wir dokumentieren Auszüge aus seiner ,bitteren Satire', in der er sich sehr kritisch über den Zustand der iranischen Gesellschaft äußert:
,Die bittere Pille und das kranke Kind'
"Die iranische Gesellschaft ist schon seit Jahren krank. Sie werden mich jetzt bestimmt fragen, welche Gesellschaft denn nicht krank sei? Ja, Sie haben vollkommen recht. Da ich aber Iraner bin, kenne ich mich mit iranischen Krankheiten besser aus, als mit denen anderer Gesellschaften. Daher denke ich auch vor allem über die nationalen und historischen Krankheiten meines eigenen Landes nach. Leider sind nicht nur die iranische Gesellschaft und die Regierung krank; es sind sogar Oppositionspolitiker, Intellektuelle und, wenn ich ehrlich bin, ich selbst befallen.
Jetzt wollen Sie bestimmt wissen, welche Krankheiten die Iraner haben. Ich kann nicht auf alle iranischen Krankheiten eingehen und begnüge mich daher mit einigen wenigen:
- Die meisten Iraner wissen eigentlich, dass zwei mal zwei vier ist. Aber sie sind mit diesem Ergebnis nicht einverstanden und sind deswegen sauer. Sie strengen sich ernsthaft an, eine andere Lösung für diese [Rechnen-] Aufgabe zu finden.
- Die Iraner leiden unter Alzheimer. Besondere Probleme haben sie mit ihrem Kurzzeitgedächtnis. Dafür haben sie ein gutes Gedächtnis über ihre Vergangenheit, sie vergessen beispielsweise nicht, was sie vor 2500 Jahren schon erreicht haben. An das, was sie [vielleicht] vor zwei Jahren verloren haben, können sie sich aber leider nicht erinnern.
- Die Iraner sind sehr bemüht ihre politischen Führer zu liquidieren, auch wenn sie diesen erst kürzlich an die Macht verholfen haben. [...]
- Die Iraner setzen sich nie für etwas ein. Sie werden nur aktiv, wenn sie in eine Sache so verliebt sind, dass sie dafür sogar den Märtyrertod sterben würden. Es verwundert daher nicht, dass sich hinter jedem politischen Geschehen eine Mordgeschichte verbirgt.
- Die Iraner interessieren sich besonders für Helden. Daher schaffen sie es auch aus jedem beliebigen Politiker ganz schnell einen Helden zu machen, lassen ihn dann aber auch unangekündigt im Regen stehen.
- Die Iraner sind meistens eifersüchtig aufeinander und können daher auch nicht zusammenarbeiten. Weltweit gibt es garantiert keinen einzigen terroristischen Plan, der von einer organisierten iranischen Gruppe ausgeführt worden wäre. Tatsächlich können zwei Iraner nicht miteinander arbeiten.
- Seit mindestens hundert Jahren leiden die Iraner unter einer kulturellen und politischen Schizophrenie. Denn das Herz von uns Iranern schlägt östlich und ist daher religiös, traditionell und emotional. Unser Verstand aber ist westlich, laizistisch, modern und intelligent. Es sollte daher niemanden wundern, dass ein Iraner seine Aufgaben nie fertig macht. Warum? Kaum hat unser Verstand damit begonnen eine Aufgabe zu lösen, wehren wir uns emotional gegen ihre Lösung. Und wenn unser Herz etwas liebevoll und emotional erledigen will, konterkariert unser Verstand alles, was das Herz begehrt.
- Wir Iraner sind auch ein wenig paranoid. Unter Paranoia leiden besonders unsere Regierungen. Eigentlich müssen wir zugeben, dass ein Iraner viel ruhiger lebt, wenn er einen Feind hat. Wir Iraner glauben nämlich generell, dass uns immer jemand verfolgt.
Vielleicht sind Sie, verehrter Leser, darüber verärgert, dass ich bisher so viele Punkte aufgezählt habe, die nicht unbedingt für die Iraner sprechen. Wissen Sie was, ich hatte tatsächlich vor, Sie zu ärgern. Was meinen Sie, wie verärgert die iranische Regierung und die Politiker über meine Texte sind, wenn ich über sie herziehe? Ich bin jedoch davon überzeugt, dass wir Iraner nie geheilt werden können, falls wir diese Verhaltensweisen nicht kritisieren.
Die Kritik an der Bevölkerung, der Regierung, den Intellektuellen und Politikern ist eigentlich wie eine bittere Pille. Aber die iranische Bevölkerung misstraut jedem Medikament, denn sie denken, dass es sich um eine giftige Pille handeln könnte. Zudem haben sie Angst, gesund zu werden, denn dann wären sie gezwungen, anders zu leben.
Wissen Sie, die Iraner wollen einfach nicht gesund werden. Wenn Sie, meine Damen und Herren, eines Tages der iranischen Gesellschaft ein solches bittere Medikament verabreichen wollen, müssen Sie daran denken, dass Sie es mit einem frechen, hyperaktiven Kind zu tun haben, das nicht gesund werden will und nicht bereit ist, seine bittere Pille zu schlucken.
Im Iran hat derjenige, der jemanden heilen will, folgende Probleme:
Erstens: Derjenige, der einem Kranken eine bittere Pille verabreichen will, muss immer gegen den Widerstand des Kranken kämpfen. Daher hört man nach einiger Zeit damit auf, sich zu bemühen und wartet bis der Kranke endlich stirbt. Oder er wird den Kranken verlassen und ins Exil gehen - beispielsweise nach Europa.
Zweitens: Derjenige, der dem Kranken eine Pille geben will, gerät mit dem Kranken in Streit. Dann lässt er ihn verhaften und ins Gefängnis sperren, denn er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es einfach keinen Sinn hat, den Iraner aufklären und heilen zu wollen.
Drittens: Derjenige, der dem Patient eine Pille geben will, ist bis zu einem gewissen Grad selbst krank. Manchmal ist er so krank, dass er selbst keine Lust hat, überhaupt gesund zu werden. Daher tut er nur so, als ob er seinem Patienten ein Medikament verabreichen will. Er besticht den Kranken sogar mit Geld und verzichtet darauf, ihm die bittere Pille zu verabreichen. [...] Ja, es gibt viele dieser Menschen im Iran, die den Anspruch erheben, andere Menschen auf diese Art und Weise zu heilen. Ihre Existenz ist zwar überflüssig, aber leider gibt es sie dennoch.
Viertens: Derjenige, der die Pille verabreichen will, bemüht sich dem Patienten gleichzeitig leckere Dinge anzubieten. Damit der Patient nicht an die bitteren Medikamente denken muss, versucht er, ihn zum Lachen zu bringen oder ihm nette Geschichten zu erzählen. [...] In solchen Situationen schluckt der Patient in der Regel die Pille. Solche Momente sind dann besonders interessant. Wenn Sie versuchen, eine bittere Wahrheit in eine lustige Geschichte zu verpacken, wird der Patient zunächst vor Freude lachen, aber sobald er den bitteren Geschmack der Pille merkt wird er wieder nachdenklich und fängt an, zu weinen.
Wir Iraner nennen eine solche Geschichte eine bittere Satire. Eine solche zu schreiben, ist genau mein Job." [2]
[1] Weitere Links zu seinen Artikeln siehe:
http://memri.org/bin/articles.cgi?Page=archives&Area=sd&ID=SP104105
http://memri.org/bin/articles.cgi?Page=archives&Area=sd&ID=SP115906
http://www.payvand.com/news/00/may/1006.html
[2] Roozonline 18. Juni 2006.
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