"Wir müssen uns dem Neuen stellen" Der Vorsitzende der Energie- und Chemiegewerkschaft IGBCE, Hubertus Schmoldt, schreibt an seine Führungsfunktionäre
von Hubertus Schmoldt
"Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
in diesem Sommer stehen die deutschen Gewerkschaften schlechter da als noch zu Beginn des Jahres.
Das wissen wir aus Umfragen, das zeigt die Entwicklung der Mitgliederzahlen. Wir verlieren weiter an Boden, sicherlich aus mehreren Gründen. Besonders ärgerlich ist jedoch, dass sich die Gewerkschaften auch selbst schwächen. Vor allem in der entscheidenden Auseinandersetzung um notwendige Reformen in Deutschland fehlt es im DGB an einer klaren politischen Linie.(...)
Schwer wiegt, dass zugleich das Verhältnis zwischen der Bundesregierung und den Gewerkschaften insgesamt belastet ist. Und es ist offensichtlich, dass auch zwischen und innerhalb der Gewerkschaften keineswegs Einigkeit herrscht.
In dieser schwierigen Lage hält die IG BCE klaren Kurs: Wir sind und bleiben gesprächsfähig und zu Reformen bereit - da, wo sie Sinn machen. Reformen, die das Prinzip sozialer Gerechtigkeit verletzen und die nicht zu strukturellen Verbesserungen, etwa auf dem Arbeitsmarkt führen, tragen wir nicht mit.
Die IG BCE wendet sich daher gegen die Einschränkung des Kündigungsschutzgesetzes in kleineren Betrieben. Dieser Eingriff führt nicht zu mehr Beschäftigung, sondern setzt die Beschäftigten der Willkür von Arbeitgebern aus. Genauso wenig steigen die Beschäftigungschancen älterer Menschen, wenn die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes gekürzt wird. Das neue Arbeitslosengeld II entspricht nahezu der alten Sozialhilfe und führt dazu, dass das Verarmungsrisiko bei Arbeitslosigkeit drastisch steigt. Das ist genauso wenig akzeptabel wie die neuen Regeln, wonach Langzeitarbeitslosen nahezu jede Beschäftigung zumutbar sein soll - auch weit unter Tarif.
Wir kritisieren, wo Kritik geboten ist.(...)
Eine gewerkschaftliche Strategie hingegen, die vor allem auf Verweigerung und Blockieren setzt, ist zum Scheitern verurteilt. Wer auf nebulöse "gesellschaftliche Mehrheiten" baut und dabei die politischen Mehrheiten in den Parlamenten außer Acht lässt, der verurteilt sich selbst zur Wirkungslosigkeit.(...)
Ob es uns gefällt oder nicht, Reform bedeutet heute nicht immer Verbesserung, es geht eher um Bewahren und Sichern als um Zuwachs, manchmal auch um Verzicht. Denn Reformpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht unter anderen Vorzeichen als etwa zu Beginn der 70-er Jahre.(...)
Wir können nicht ignorieren, dass sich die Unternehmen heute weltweit die für sie günstigsten Bedingungen suchen.(...)Staaten konkurrieren mit niedrigsten Steuern für Unternehmen und Kapital untereinander.
Gleichzeitig belastet die zunehmende Alterung der Gesellschaft unser bewährtes System sozialer Sicherheit.(...)
Uns stellt sich die Aufgabe, Solidarität unter diesen Bedingungen neu zu definieren, damit sich die Menschen auch in Zukunft vor den großen Lebensrisiken geschützt wissen. (...)
Genauso haben wir in aller Deutlichkeit kritisiert, dass es bislang dem Reformprozess an sozialer Gerechtigkeit mangelt. Eine gerechte Verteilung der Lasten ist unverzichtbare Bedingung für eine erfolgreiche Erneuerung.
Die Gewerkschaften begleiten den Prozess der Modernisierung - allerdings allzu oft ohne klare Linie. Statt Einsicht in den notwendigen Wandel herrschte und herrscht vielfach ein trotziges Nein vor. Aber wir können der Wirklichkeit nicht entfliehen. Und wir können es uns nicht leisten, dass unser Gewerkschaftsbund in zentralen politischen Fragen hin und her schwankt:
- Wer das Bündnis für Arbeit zunächst begrüßt, es dann selbst mit zum Scheitern bringt, arbeitet denen in die Hände, die von vornherein gegen eine gemeinsame Anstrengung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit waren.
- Wer zunächst der Agenda 2010 im Grundsatz zustimmt, aber Änderungen im Detail fordert, der macht sich unglaubwürdig, wenn er anschließend das genaue Gegenteil, nämlich einen grundsätzlichen Politikwandel fordert.
Wir begrüßen, dass nun alle Gewerkschaften erklären, die alten Schlachten nicht mehr schlagen, sondern neue Themen angehen zu wollen - im kritischen Dialog mit der Politik.(...)
Tatsächlich ist bis heute im DGB nicht debattiert, geschweige denn geklärt worden, wie die Gewerkschaften ihr Selbstverständnis und ihre Rolle in den Zeiten des Wandels definieren. Das hat vor allem zwei Gründe:
- Manche neigen dazu, veränderte Realitäten zu leugnen. Zum Beispiel, dass es nicht mehr der Nationalstaat der 60-er Jahre ist, der unserem Handeln einen überschaubaren Rahmen setzt.
- Manche meinen allzu oft, den Menschen jederzeit fertige Antworten liefern zu müssen - und seien es die alten und damit falschen. (...)
Wir müssen uns dem Neuen stellen. Symbolische Politik ist dafür kein Ersatz. Alle wissen, dass die Vermögenssteuer wenig bringt. Da ist schon das Verfassungsgericht vor. Alle wissen, dass ein höherer Spitzensteuersatz im Bundesrat nicht durchsetzbar wäre. Daran lässt die Union keinen Zweifel.
In aller Klarheit: Wenn führende Gewerkschafter und Politiker gleichwohl die Forderung nach Vermögenssteuer und höherem Spitzensteuersatz ins Zentrum ihrer Politik rücken, dann ist das im besten Fall schlichter Populismus. Im schlechteren Fall hat das Methode. Es suggeriert, die Regierung könnte, wenn sie denn nur wollte, solchen Forderungen nachkommen. Nach dieser Logik wäre Rot-Grün entweder böswillig - also gegen soziale Gerechtigkeit, oder unfähig - also genauso ablösungsreif. Die Beteuerung, man wolle keinen Regierungswechsel, ist damit kaum vereinbar. Wir werden uns nicht daran beteiligen, auf diese Weise Politikverdrossenheit zu fördern. Wer nicht zur Kenntnis nehmen will, dass das Wünschbare nicht zu machen ist, der gefährdet selbst das Machbare.
Politik mit verbaler Brachialgewalt produziert nur Verlierer. Bleibt die Kraftmeierei im öffentlichen Auftritt ohne konkrete Ergebnisse, offenbart sich darin letztlich Schwäche. Stärke gewinnen die Gewerkschaften, wenn ihre Lösungsvorschläge überzeugen und durchsetzbar sind. Deshalb fordert die IG BCE beispielsweise eine höhere Besteuerung großer Erbschaften, das Schließen von Steuerschlupflöchern und Mindeststeuersätze für Unternehmen in Europa.
Um die Interessen unserer Mitglieder durchzusetzen, sucht die IG BCE selbstverständlich die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, wo immer das Sinn macht. (...) Die IG BCE glaubt nicht an mehr Zukunft im Bündnis mit attac. Ganz allgemein, wie attac, gegen Globalisierung zu sein, verändert nichts zum Besseren.
Gewerkschaftliche Identität erwächst aus eigenem Handeln.(...)
Können wir uns etwas von der beabsichtigten Neugründung einer Partei links der SPD versprechen? Der Entstehungsprozess der Grünen ist damit jedenfalls nicht vergleichbar. Damals haben sich junge Leute mit neuen Ideen zusammengefunden, heute sind es alte Leute mit überholten Ideen - und ohne Perspektive für die Gesellschaft, wie eine Berliner Tageszeitung zutreffend kommentiert.(...)
Die IG BCE warnt vor einem falsch verstandenen Gerechtigkeitsbegriff. Auch der Vorwurf, die SPD sei nicht mehr "Anwalt der kleinen Leute", greift zu kurz. Eine Volkspartei muss größere Kreise der Bevölkerung vertreten und an sich binden. Wie auch die Gewerkschaften nicht allein die unteren Entgeltgruppen organisieren. Wer zum Beispiel die Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung anheben will, greift nicht zuletzt Arbeitnehmern in die Tasche, die Mitglieder der Gewerkschaften sind. Deshalb reden wir nicht nur über Verteilungs-, sondern auch über Leistungsgerechtigkeit. (...)
Das Prinzip Gerechtigkeit ist für die IG BCE Maßstab auf allen Politikfeldern. Genauso sind wir für Fairness in der Kritik.(...)
Die Ergebnisse der jüngsten, vom DGB selbst in Auftrag gegebenen Polis-Studie sind eindeutig: Die Gewerkschaften sollen sich nicht verweigern, sondern mitgestalten. Nicht Konfrontation um jeden Preis, sondern Kompromisse, da wo sie möglich sind. Denn die Menschen wissen um die Notwendigkeit von Reformen. Wir sollen dafür sorgen, dass dabei Gerechtigkeit gewahrt bleibt.
Halten wir uns an diesen Auftrag, gewinnen wir auch verloren gegangenes Vertrauen zurück".
Artikel erschienen am Fr, 6. August 2004
DIE WELT
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