Unbekannte Schrift, seltsame Pflanzen: Immer mehr Experten spekulieren über die Rätsel des spätmittelalterlichen Voynich-Manuskriptes. Birgt es das Wissen der Alchimisten?
von Ulli Kulke
Die Signatur des Werkes lautet "MS 408". In der Bibliothek der Yale-Universität ist es der bestgehütete Schatz. Noch besser gehütet aber ist das Geheimnis, das er in sich birgt. Der Katalogtext ist vielsagend: "Verschlüsseltes Manuskript. Wissenschaftlicher oder magischer Text in nicht identifizierter Sprache, in Geheimschrift. Mitteleuropa (?), XV. bis ausgehendes XVI. Jh. (?)" Wer sich "MS 408" ansehen will, auf dem Campus gut zwei Stunden nördlich von New York, muß lange vorher anfragen. Eine dreiviertel Stunde bekommt er mit Glück, und umblättern darf immer nur die Dame aus der Verwaltung.
Doch selbst wenn er drei Tage oder vier Wochen Zeit bekäme - lesen könnte der Besucher das Buch nicht. Die 262 illustrierten und eng beschriebenen Seiten dürften auch ihm verschlossen bleiben. Pflanzen, die keiner kennt, Schriftzeichen, die niemand zuvor sah; unscharf erinnern sie an Sanskrit oder thailändische Lettern. Bis heute sind an der Entzifferung des Werkes noch alle gescheitert, in der Renaissance-Wundertäter und Aufklärer gleichermaßen, im 20. Jahrhundert Kryptologen, Experten für militärische Codes, Enigma-Entschlüssler, und in unseren Tagen eine unüberschaubare Gemeinde von "Voynicheros" im Internet. Jetzt ist ein Buch über all die erfolglosen Versuche auch auf deutsch erschienen, und so dürfte die Gemeinde auch hierzulande anwachsen. Kenntnisse von frühneuzeitlichen Geheimbünden oder Alchimisten könnten beim Entziffern helfen. Oder ist alles nur Schabernack, eine Narretei von vor 500 oder sogar 800 Jahren?
Herkunft und Zwischenstationen des wohl rätselhaftesten Werkes der Literaturgeschichte sind nicht minder geheimnisumwoben. Es war 1912, als Wilfried Voynich, in London lebender polnischer Freiheitskämpfer und Antiquar, in einer alten Truhe einen Band mit merkwürdigen Handschriften entdeckte. "Auf einem alten Schloß in Südeuropa", wie er kryptisch zu erklären pflegte.
Der genaue Fundort sollte erst im Jahr 1960, lange nach seinem Tod, ans Licht kommen: Die Truhe stand in der Villa Mondragone in Frascati, einem Jesuitenkolleg südlich von Rom. Die Patres brauchten damals Geld, um ihr Haus zu renovieren, also veräußerten sie seltene Manuskripte. Die geheimnisvollen Blätter mögen Voynich ins Auge gestochen sein, elektrisiert hat ihn aber erst ein beigeheftetes Schreiben, das das ganze Werk geradezu adelte. Es war ein Brief, verfaßt von einem gewissen Joannes Marcus Marci, datiert in Prag am 19. August 1666, gerichtet an einen Freund namens Athanasius Kircher. Und darin las Voynich unter anderem: "Dr. Raphael, ein Lehrer der böhmischen Sprache am Hofe Ferdinands II., damals König von Böhmen, berichtete mir, das Buch habe Kaiser Rudolf gehört, der dem Überbringer sechshundert Dukaten dafür bezahlte. Er glaubt, der Verfasser sei Roger Bacon." Der frühere Besitzer, so schrieb Marci weiter, "hat sich dem Entziffern unermüdlich gewidmet, wie aus seinen Versuchen hervorgeht, die ich Euch ebenfalls übersende; die Hoffnung versiegte erst am Ende seines Lebens, seine Mühe war umsonst."
Kaiser Rudolf II., gekrönt 1576, verstorben 1612, war Urenkel von Johanna der Wahnsinnigen. Seine Überspanntheit, die Melancholie, der Glaube, selbst verhext zu sein, all dies führen viele Historiker auf das damalige Habsburger Erbgut zurück. Ein Porträt von ihm ist wohlbekannt; gemalt von Giuseppe Arcimboldo, der das Antlitz des Herrschers 1590 aus Obst, Gemüse und Wurzeln zusammenkomponierte. Rudolf machte um 1600 Prag zur kaiserlichen Hauptstadt, die Metropole der Astronomen und Astrologen, der Rosenkreuzer und anderer Geheimbünde, der mysteriösen Experimente von Alchimisten auf ihrer Suche nach dem Stein der Weisen, mit dem man Gold schöpfen wollte. Der Ort, wo der Kunstmensch Golem durch die Gassen spukte. Esoteriker, würde man heute sagen, beherrschten die Szene, und sie brachten die Stadt zu kultureller und wirtschaftlicher Blüte, während von Ungarn her die Türken dräuten und am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges der Apokalyptische Reiter bereits da war.
§ Ist der Voynich-Code, wie das Manuskript heute genannt wird, ein Werk aus jener Zeit, aus dem 16. Jahrhundert? Gar eine Mitteilung eines Glücklichen, der aufzeichnen wollte, welche Gewächse man braucht, um dem Stein der Weisen Wirkmacht zu verleihen, und es dann doch lieber geheimhielt?
Der Beipackzettel allerdings brachte Roger Bacon als Autor ins Spiel, einen englischen Gelehrten aus dem 13. Jahrhundert, der in Paris und Oxford der Naturwissenschaft nachging und den Beinamen Dr. Mirabilis trug - der "Bewundernswürdige". Für seinen Freund Papst Clemens IV. erklärte er die ganze Welt in drei Büchern, "Opus maius", "Opus minor" und "Opus tertium". Bacon, eine Art Frühaufklärer, schrieb gegen die scholastische Vermengung von Glaube und Wissenschaft an, saß deshalb trotz seiner Beziehungen zehn Jahre in Klosterhaft. Ihm wird nachgesagt, er habe knapp 100 Jahre vor Berthold Schwarz bereits das Schießpulver gekannt. Beschrieb er etwa den explosiven Stoff in jenen chiffrierten Lettern? Ein hochbrisanter Kassiber aus der Mönchszelle?
Offen ist, wer das Manuskript Kaiser Rudolf übergab. Manches spricht für John Dee, auch Alchimist und eine der bizarrsten Gestalten des frühneuzeitlichen Okkultismus, dessen Vater Weinhändler und Freund des berüchtigten englischen Königs Heinrich VIII. war, der selbst von Queen ("Bloody") Mary protegiert wurde und auch zu anderen Monarchen persönliche Beziehungen unterhielt. Um 1585 hielt er sich am Prager Hof von Kaiser Rudolf auf, gemeinsam mit seinem Bruder im Geiste, Edward Kelley, einem fanatischen Bücherfreund. Die Stadt war bereit für solche Zeitgenossen, und wo immer sie auftauchten, führten sie Goldmacher-Experimente vor oder verkündeten die baldige Ankunft des Antichristen. Zogen sie das Buch dabei aus ihrem Zauberkasten?
Neben nackten Nymphen, rätselhaften Rosetten, allerlei Flora und Fauna, ja sogar klar zu erkennenden, überdimensionalen Eierstöcken sehen Voynich-Forscher heute in dem Werk Dinge, die es eigentlich gar nicht gab: Sonnenblume und Cheyenne-Pfeffer etwa, die aus Amerika kamen. Handelt es sich dabei tatsächlich um solche Exoten, fiele Bacon als Autor aus, falls er nicht 250 Jahre vor Kolumbus von der Neuen Welt gehört hatte.
Kelley indes war allbekannt als Fälscher, hatte sogar ausgiebige Gefängniserfahrung. Deshalb und wegen der amerikanischen Pflanzen meinen manche Experten, Dee und Kelley hätten selbst die Pergamente vollgekritzelt und sie als jahrhundertealte Weisheiten verkauft; an den Kaiser für 600 Dukaten - damals das Vielfache des Jahreseinkommens eines Handwerksmeisters.
Welchen Weg die Schrift nach dem Anschreiben jenes Marci bis zu Voynichs Fund 1912 in der Truhe nahm, weiß niemand. Bekannt ist lediglich, daß nach Voynichs Tod 1930 und dem seiner Frau Ethel 1960 die Sammlung an seine Sekretärin ging, die sie an den New Yorker Buchhändler Hans-Peter Kraus für 24 500 Dollar verkaufte (der 1978 auch in Deutschland bekannt wurde, als er dem Mainzer Gutenberg-Museum für 3,7 Millionen Mark eine Gutenberg-Bibel verkaufte). Als Kraus seine schwindelerregenden Preisvorstellungen für das Voynich-Manuskript nicht realisieren konnte, verschenkte er es an die "Beinicke Rare Book and Manuscript Library" der Yale-Universität. Kurz darauf wurde der Wert auf bis zu 500 000 Dollar geschätzt.
Bislang läßt Yale keine Altersbestimmung der Blätter im Labor zu, so daß nicht mal klar ist, ob sie aus dem 13. oder dem 16. Jahrhundert stammen. Oder gar aus dem 20., aus der Feder von Voynich höchstpersönlich? Kurz nach ihrem Auftauchen 1912 jedenfalls setzte die im 17. Jahrhundert offenbar unterbrochene Dechiffrierarbeit wieder ein. Gleich der erste Forscher, der bekannte Altphilologe William Newbold von der Universität Pennsylvania, erklärte lauthals die erfolgreiche Entschlüsselung; sein Ruf war ruiniert, als sich alles als haltlos erwies. Alle bekannten Pfade der Decodierung wurden sondiert: Man vermaß die sogenannte Entropie der "Schriftzeichen", den Grad ihrer Zufälligkeit in der Abfolge; man suchte anhand ihrer Häufigkeitsverteilung Parallelen zu herrschenden Sprachen; bald schon konnte man alle üblichen Chiffriermethoden wie etwa die einfache Parallelverschiebung zweier Alphabetreihen ausschließen. Kopfzerbrechen bereitete allein schon die Frage, um wie viele unterschiedliche Zeichen es sich handelte. Professor John Manly, ein im Ersten Weltkrieg erfolgreicher Codeknacker, der über die gesamten zwanziger Jahre über dem Manuskript grübelte, blieb erfolglos wie viele andere.
Der brasilianische Mathematiker Jorge Stolfi meinte entdeckt zu haben, daß die Worte durchweg aus drei Silben bestehen. René Zanderbergen, Ingenieur bei der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA) will mit Computerhilfe erkennen, daß der Manuskripttext immerhin Bedeutung habe. Gordon Rugg, Informatiker der britischen Keele-Universität, benutzte ein Cardan-Gitter, ein elisabethanisches Spionagewerkzeug, zur Textanalyse.
In der Zeitschrift "Cryptologia" resümierte Rugg dann in einem Beitrag unter dem Titel: "Ein eleganter Scherz". Freilich mit dem Untertitel: "Eine mögliche Lösung des Voynich-Rätsels". Es gibt eben viele Möglichkeiten, die der Code uns bietet. Und es steht zu fürchten, daß die Suche nach der einzig wahren ebenso erfolglos bleiben wird wie die nach dem Stein der Weisen. Besser gesagt: Es steht zu hoffen. Denn der Zauber jener Schrift verflöge genauso wie der des Goldes, wenn erst beide Rätsel gelöst wären.
Gerry Kennedy, Rob Churchill: Der Voynich-Code. Das Buch, das niemand lesen kann. Verlag Zweitausendeins, 312 S., 24 Euro.
Artikel erschienen am Mo, 12. Dezember 2005, welt.de
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