Der Lugano-Report oder Ist der Kapitalismus noch zu retten? von Gerhard Nansen, Deutschland
Globalisierungskritiker der internationalen Bewegung «Attac» sind mittlerweile durch ihre zahlreichen Proteste bekannt. In dieser Bewegung engagiert sich auch Susan George, die Autorin. Ihre Kritik an den herrschenden Verhältnissen, dem rücksichtslosen Vorpreschen der sogenannten «Globalisierung» hat sie in einem Buch voller unangenehmer Fakten verpackt. Diese sind so beängstigend, dass sie der Leser kaum glauben mag. Die Autorin versichert jedoch, dass «der Inhalt [ ... ] wie meine übrigen Bücher vollständig auf umfangreichem Faktenmaterial» basiert. (S. 272)
Warum «Lugano-Report»? Warum hat das Buch den merkwürdigen Titel «Lugano-Report»? Das hat folgende Gründe: Die Attacke auf die «Herren der Welt», die den Turbo-Kapitalismus ohne Moral und Anstand vorantreiben, führt Susan George nicht direkt. Sie umkleidet ihr Aufklärungsbuch mit einer fiktiven Rahmenhandlung:
Eine sogenannte «Arbeitsgruppe» wird von den Mächtigen dieser Welt eingesetzt, um zu analysieren, wie der hemmungslose Kapitalismus und der freie Markt auch noch im 21. Jahrhundert fortgeführt werden können. Dass es ökologische, politische und gesellschaftliche Probleme gibt, den jetzigen Turbo-Kapitalismus durchzuhalten und weiter durchzuführen, bestreiten auch die mächtigen Auftraggeber des «Lugano-Reports» nicht. Die geheime Arbeitsgruppe hat sich immer in Lugano im Tessin getroffen, deshalb heisst ihr vertraulicher Bericht auch «Lugano-Report». Die Experten der Arbeitsgruppe werden von George nur als Pseudonym genannt. Sie nennen sich «Edelweiss» oder «Narzisse».
Hinter den Kulissen
Das ist der Clou des Buches: Der Leser des Lugano-Reports von Susan George darf nun diesen vertraulichen Bericht der beauftragten Arbeitsgruppe lesen. Normalerweise erfährt die Öffentlichkeit davon nichts. So erhält der Leser von Susan Georges Buch Einsicht in Vorgänge, die aber - das ist Susan Georges Behauptung - ganz real sind. Der Lugano-Report hat also eine fiktive Handlung, die in der Wirklichkeit spielt, in unserer Wirklichkeit.
Zu welchen Empfehlungen kommt die Lugano-Gruppe? Die Arbeitsgruppe schlägt Zug um Zug grausame und oft zynische Massnahmen zur Rettung des Extremkapitalismus der wenigen Reichen und Mächtigen vor. Jeder Leser mag selbst beurteilen, ob und wie die hier vorgeschlagenen Massnahmen schon umgesetzt sind. Wer ein aufmerksamer und kritischer Zeitgenosse ist, der wird in der realen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, im Abbau der Demokratie usw. vieles entdecken, was die «Arbeitsgruppe» im Lugano-Report vorgeschlagen hat. Das Buch ist deshalb spannend und erschreckend zugleich. Und je mehr sich Parallelen zu heute auftun in unserem Land, aber auch in ganz Europa bis in die entferntesten Kontinente und Länder dieser Erde, um so mehr Glaubwürdigkeit gewinnt der Report.
Einige der Massnahmen, die die Welt zu erwarten hat
Welche Massnahmen zur Sicherung des nackten Kapitalismus werden von George angeführt? Hier einige Beispiele:
# Untertanen statt Bürger - Auflösung der Identität
Damit der Bürger (wieder) zu einem willigen Untertanen und zu einem kritiklosen Konsumenten erzogen wird, soll er seiner Identität beraubt werden. Er soll entwurzelt werden. Ein Mensch ohne Eigenschaften und Tradition, ohne inneren Halt ist das Ziel der Gesellschaftspolitik. Ihn kann man (sanft oder repressiv) führen, wohin man will. So gehört auch der offene oder versteckte Kampf gegen eine Orientierung gebende und Halt vermittelnde Religion, gegen ethisch anspruchsvolle Weltanschauungen, wie sie die Aufklärung hervorgebracht hat, dazu.
(Deshalb ist wohl auf der Expo 02 keine oder kaum eine Schweizerfahne im Gegensatz zu früheren Ausstellungen zu sehen, der Einzelne soll vereinzelt in neuen Entdeckungsgemeinschaften aufgehen. Sanft wird man durch Räume geführt, die ein «völlig neues Gefühl bieten» - also auch kindliche Gefühle ansprechen. Mythen werden so wieder hoffähig, 60 Jahre nach dem Faschismus. Der Bürger soll sein Geschichtsbewusstsein verlieren, «neue» Erfahrungen machen, mitzumachen dabei, wird zum höchsten Gut. Kein Wunder, dass grosse Wirtschaftskonzerne die Expo sponsern und ein wunderbares Miteinander von globalisierter Wirtschaft und «Kultur» demonstrieren. Schöne, neue Welt: Teilprivatisierte ehemalige Staatskonzerne können jetzt ihre Gelder in Manipulationsprojekte der Expo stecken, statt in Randregionen unseres Landes ausreichend Lehrlingsstellen zur Verfügung zu stellen, wie das vor der Privatisierung der Fall war.)
# Selbstverwirklichungsprojekte fördern
Der egozentrische, ungesund neurotische Selbstverwirklichungswahn soll gefördert werden. (S. 122) (Erinnert sei da an viele absurde Lehrerfortbildungen, an neuere «moderne» Lehrpläne für Schulen und Kindergärten). Mit dem Gerede von der «Eigenverantwortung» des Individuums soll der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen werden und nicht mehr der Solidarität der Staatsgemeinschaft gewiss sein dürfen. Hierhin gehört auch Spin-doctor-Gerede vom «schlanken Staat».
# Anführer von potentiellen Gegenbewegungen verleumden, ausschalten
Potentielle Führer von Gegenbewegungen zum nackten Kapitalismus seien zu diskreditieren, empfiehlt die Arbeitsgruppe. (S. 122)
# Bürgerkriege anzetteln
Bürgerkriege sollen gefördert und Gruppen gegeneinander gehetzt werden!
(Da horcht jeder auf, der sieht, wie mit den bilateralen Verträgen unerträgliche Verkehrsverhältnisse, die Zerstörung des Mittelstandes und Kleingewerbes, des Bauernstandes und der leitenden Berufe vorangetrieben werden. Auch die Ost-Erweiterung der EU wird das Spannungspotential in den alten EU-Staaten, in die viele neue Arbeitskräfte strömen, erhöhen. Die Löhne werden gedrückt, Familien verarmen.)
# Nationalstaaten entkernen - EU als Werkzeug
Weiter sollen die Nationalstaaten entkernt und der Begriff des Staatsbürgers umdefiniert werden. (S. 119) Dabei habe die undemokratische EU-Kommission eine zentrale Aufgabe. (S. 118)
# Brutale Bevölkerungsreduktion
Eine grosse Aufgabe ist auch die Reduktion der Weltbevölkerung. (S. 132 und S. 256)
(Euthanasie, Druck zur Abtreibung, Pflegenotstand, schlechte Medikamente für die dritte Welt erinnern daran. In Holland hat die «Arbeitsgruppe» sicher schon Gehör gefunden. Privatisierungen von Firmen öffnen dem Grosskapital Investitionswege und die Macht über die Grundversorgung der Bevölkerung, der Internationale Währungsfonds (IWF), den George hier ausdrücklich nennt, macht Druck zur Privatisierung, indem er nur Kredite an Länder vergibt, die ihre Wirtschaft «öffnen».)
# Umkehrung von Moral und Anstand - Verzicht auf Gemeinwohl
Eine Ehtik, die am Gemeinwohl, an den gleichen Rechten für alle orientiert ist, soll der Vergangenheit angehören. Die «Ethik der Solidarität» soll durch eine «Notstandsethik» ersetzt werden. Diese Notstandsethik hilft nur noch punktuell, dort, wo es gerade opportun ist. Grundsätzlich wird keinem Staat, keinem Land, keiner notleidenden Bevölkerungsgruppe mehr geholfen. Es sei opportun, 50 Menschen vor die Kamera zu bringen, denen man voller Mitleid hilft, im Hintergrund dürften, ja sollten 50000 dabei unbemerkt sterben. Die Ära grosser Friedensbewegungen gegen den Vietnam-Krieg zum Beispiel wäre zu Ende. Die Welt solle in «Barbaren» und «zivilisierte» Menschengruppen eingeteilt werden. Menschenrechte für alle, gleiche Menschenwürde für alle - das sind Fremdwörter für die neue Ethik. (S. 139)
(Der neokoloniale, ausbeuterische Umgang mit dem afrikanischen Kontinent, der den alten Kolonialismus sogar noch übertrifft - denn damals wurde wenigstens noch eine intakte Infrastruktur in den Kolonien aufgebaut - bekommt so eine Erklärung. Auch die Kälte Bundesrat Leuenbergers gegenüber der ökologischen und wirtschaftlichen Katastrophe in den Durchgangskantonen Tessin und Uri lässt aufhorchen. In Deutschland wird der von Jutta Ditfurth beschriebene Untergang und die Entkernung der Grünen, die Wende hin zur Kriegspolitik mit dem Lugano-Report noch deutlicher erklärbar.)
# Kampf gegen Terrorismus vorausgesagt
In dem zum ersten Mal 1999 in London erschienenen Buch werden auch der Kampf gegen den Terrorismus und militärische Interventionen des Westens vorausgesagt. Die Genfer Konventionen sind hinderlich. Söldnertruppen werden empfohlen. Sie können die Dreckarbeit machen.
# Rolle der Weltbank
Aus der realen Geschichte beweist Susan George, wie die Weltbank mit ihrem Privatisierungsprogramm aus vormals gemeinnützigen, gepflegten Ländereien nun kurzfristig ausgebeutete Gebiete gemacht hat, die heute im buchstäblichen Sinne verwüstet sind.
# Bauernstand eliminieren - landwirtschaftliche Grossprojekte kontrollieren
Die Kleinbauern sollen eliminiert werden. Grosse Konzentrationen in der Landwirtschaft sind zu fördern. Wenn es nur wenige grosse Lagerhallen gibt und diese einmal zerstört werden, dann kann man Hungersnöte produzieren. Selbstversorgung sollte vermieden werden.
(Zur Erinnerung: In Grossbritannien sollen in den nächsten 18 Jahren von 220000 Bauernhöfen nur noch 5000 übrigbleiben.)
# Mittelstand zerstören
Der Mittelstand soll zerstört werden, Aktiengesellschaften sind zu fördern.
(Zur Erinnerung: Durch die bilateralen Verträge werden viele Kleinbetriebe und Handwerker durch Dumpingpreise aus den EU-Staaten in den Konkurs getrieben.)
# Schlimmer als das Mittelalter: Seuchen produzieren
Hunger, Tuberkulose, Malaria sollen nicht bekämpft werden, sondern man soll sogar Sumpfgebiete anlegen, um die Krankheiten zu fördern, z.B. in Indien. (S. 183 und S. 194)
# Kinderrechte stärken
Die Rechte der Kinder sollen ausgebaut werden, und zwar um mehr billige Arbeitskräfte zu gewinnen.
# Fazit nach der Lektüre des Buches Susan Georges Lugano-Report gibt viele unangenehme Antworten auf die Frage, warum unsere Welt immer kälter wird. Und das, obwohl viele wohlmeinende, gutgläubige Menschen an ihrem jeweiligen Ort dem Wertezerfall, der Zerstörung des Gemeinwohls und der Familie etwas positiv entgegensetzen, oft über ihre Kräfte hinaus. Warum honorieren die Medien die aufbauende, konstruktive Arbeit am Gemeinwohl nicht? Der Lugano-Report erklärt in erschreckender Weise diese unangenehme Beobachtung.
Es wäre zu wünschen, dass die Autorin in der Schlussfolgerung und im «Weg heraus» sich deutlicher äusserte, wie sie zum Nationalstaat europäischer Prägung steht - andererseits kann dies auch eine Frage der weiteren Diskussion sein. Voll einig geht man mit ihr, den menschenverachtenden Zynismus der mächtigen Männer und Frauen nicht zuzulassen und weiter unbeirrt am Gemeinwohl zu arbeiten. Nach der Lektüre des Lugano-Reports noch entschlossener.
George, Susan, Der Lugano-Report oder Ist der Kapitalismus noch zu retten? Reinbek 2001.
Artikel 13: Zeit-Fragen Nr.34 vom 19. 8. 2002, letzte Änderung am 20.8. 2002
http://www.zeit-fragen.ch/ARCHIV/ZF_95d/T13.HTM
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