Erfolgreich, aber umstritten: Wal-Mart gewährt erstmals Einblicke in die Firma Küssen verboten bei Wal-Mart Von Tobias Moerschen, Handelsblatt Hallo, wie geht es Ihnen?“ fragt Pat den Rentner, der seinen Einkaufswagen an ihr vorbeischiebt. „Danke, gut“, antwortet der Kunde und erwidert Pats Lächeln. Die Szene wiederholt sich Dutzende Male, während Pat durch den Supermarkt in Jane im US-Bundesstaat Missouri läuft.
Der Markt in der Provinz ist einer von mehr als 5 000 Wal-MartLäden, und in all diesen Filialen sind die Regeln dieselben: Die Mitarbeiter duzen sich, und alle halten sich an die berühmte Anweisung: Nähert sich ein Kunde auf zehn Fuß, also knapp drei Meter, dann sucht jeder Angestellte Blickkontakt, lächelt und grüßt. Das gilt für jede Aushilfe ebenso wie für Pat, die mit Nachnamen Curran heißt und 540 Wal-Mart-Filialen als Regionalmanagerin im Südwesten der USA betreut.
Die Zehn-Fuß-Regel entsprang, wie so vieles bei Wal-Mart, dem Kopf des Firmengründers Sam Walton. Der geizige Händler, der auch noch als Multimilliardär mit einem rostigen Kleinlaster zur Arbeit fuhr, startete mit einer Hand voll Geschäften im Süden der USA. Bei seinem Tod 1992 hinterließ er ein Imperium, in dem die Sonne nie untergeht. 1,6 Millionen Menschen schaffen weltweit für die Amerikaner. Wal-Mart erzielte 2004 einen Umsatz von 285 Milliarden Dollar, mehr als jedes andere Unternehmen. Dagegen nimmt sich die Metro, Deutschlands größter Händler, mit Erlösen von 56,4 Milliarden Euro geradezu mickrig aus.
Doch der Wachstumskurs, die eigenwillige Firmenkultur und die straffe Lohnpolitik provozieren Kritik, viel Kritik. Und so ist Wal-Mart vor dem Hintergrund der jüngsten Ethik-Welle (siehe: Der Chef als Sittenwächter) zu einem der umstrittensten US-Unternehmen geworden. So umstritten, dass Bürgerproteste zuletzt gar den Bau neuer Märkte stoppten. Hinzu kommen diverse Skandale um illegale Beschäftigung: Arbeiter ohne Aufenthaltsgenehmigung sollen genauso bezahlt worden sein wie Minderjährige. In Deutschland produzierte das Unternehmen Schlagzeilen, weil Wal-Mart seinen 13 000 deutschen Mitarbeitern die Liebe zu Kollegen untersagte: Küssen verboten.
Besonders die Gewerkschaften nehmen sich den Handelsriesen nun vor. Das größte Risiko aber geht von einer Sammelklage wegen angeblicher Benachteiligung von Frauen aus, die Wal-Mart Entschädigungen in Milliardenhöhe kosten könnte. Inzwischen hat die Firmenleitung gehandelt: Ende März entließ der Aufsichtsrat die Nummer zwei des Konzerns, Thomas Coughlin. Angeblich hatte er Spesen falsch abgerechnet. Und Gerüchten zufolge auch noch Informanten bei Gewerkschaften bezahlt, um deren Einnisten im Konzern zu verhindern. Anschuldigungen, die Wal-Mart zurückweist.
Angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks ging der verschwiegene Handelsriese vergangene Woche in die Offensive und lud zur ersten Medienkonferenz seiner Geschichte. 50 Journalisten reisten ins Tagungshotel der Kleinstadt Rogers, nahe der Zentrale in Bentonville, Arkansas. Zwei Tage priesen Topmanager den Konzern und gewährten einen Blick hinter die Kulissen.
„Wal-Mart ist gut für Amerika“, sagte Vorstandschef Lee Scott, ein stämmiger Mann mit ausgedünntem Seitenscheitel. Scott trat betont locker vor die Gäste, ohne Krawatte und Redemanuskript. Der Teleprompter war für die Zuhörer unsichtbar hinter einem schwarzen Vorhang verborgen. Während er redete, brauste auf dem Highway hinter dem Hotel alle 30 Sekunden ein Wal-Mart-Truck vorbei.
Wal-Marts Kritiker nannte Scott realitätsfern: „Wenn wir ein Warenhaus eröffnen, bekommen wir oft zehnmal mehr Bewerbungen, als Stellen zu besetzen sind. Es macht keinen Sinn, dass Leute für Jobs anstehen, die schlechter bezahlt sind und weniger Sozialleistungen bieten als jene, die sie vorher hatten.“
Das lässt Paul Blank, Chef der von den Gewerkschaften finanzierten Initiative „Wal-Mart wachrütteln!“, so nicht gelten. Wal-Mart schaffe zwar Jobs, gesteht er ein. Aber mit seinen Warenhäusern verdränge der Handelsriese kleine Geschäfte und zwinge andere Händler in eine „ruinöse Abwärtsspirale“, die zu immer niedrigeren Löhnen und Sozialleistungen führe. „Wal-Mart trägt zur Vernichtung der Mittelklasse bei“, sagt Blank, 29, der vor einem halben Jahr noch als Wahlkampfberater für den linken Präsidentschaftskandidaten Howard Dean arbeitete.
Ist Wal-Mart nun gut für Amerika und die Welt? Oder versetzt der Gigant der Mittelklasse den Todesstoß?
Im Wal-Mart-Supercenter in Jane kaufen vor allem Ruheständler aus der nahen Kolonie „Bella-Vista“ ein. Ein Plastikeimer kostet 97 Cents, in New York zahlt man dafür bis zu fünf Dollar. Auch T-Shirts und Bier sind hier billiger.
Wal-Marts Mitarbeiter müssen indes mit einem Lohn von im Schnitt 9,68 Dollar je Stunde auskommen. Andere US-Händler zahlen zwölf bis 18 Dollar, schimpft die US-Gewerkschaft UFCW. Nur die Hälfte aller Wal-Mart-Mitarbeiter sei zudem über ihren Arbeitgeber krankenversichert. Im Supermarkt von Jane stehen hinterm Tresen viele Ältere, die ihre Rente aufbessern. Ein Viertel aller Beschäftigten arbeitet in Teilzeit. Gewerkschaftsmitglied ist keiner.
Wozu man überhaupt eine Gewerkschaft braucht, kann Regionalchefin Pat, 44, nicht verstehen. Sie startete ihre Karriere als Teenager an der Kasse eines Warenhauses. Von dort arbeitete sie sich hoch. Stolz trägt sie ihr Namensschild. Darunter kündet eine Medaille von „20 Jahren hingebungsvollem Service“. Daneben prangt eine Nadel mit den Zahlen 13/14. „Die hat Tom mir gegeben“, erzählt die zierliche Frau und meint den jüngst gefeuerten Ex-Vize.
Die Zahlen erinnern an die Regeln 13 und 14 des Generals Norman Schwarzkopf, der den ersten Golfkrieg befehligte. „Regel 13 lautet: ‚Wenn du das Kommando hast, dann führ es auch’. Und die 14 bedeutet: ‚Folge im Zweifel deinen Grundsätzen’“, erklärt Pat.
Und so verkörpert die Managerin die Firmenkultur: lächelnd, aber extrem leistungsorientiert. Morgens sitzt sie oft schon vor sechs im Büro. „70 Stunden je Wochen kommen locker zusammen, Kinder kann ich mir bei dem Job nicht leisten“, sagt sie. Und lächelt freundlich einem Kunden zu, der sich bis auf zehn Fuß genähert hat.
HANDELSBLATT, Dienstag, 12. April 2005, 12:00 Uhr
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