Jeder gegen jeden Warum Frankreichs Vorstädte nicht zur Ruhe kommen.
AULNAY-SOUS-BOIS. Jungs aus unserem Viertel haben meinen Bulli verbrannt", sagt Gri Belkacem. Der Fleischer wischt sich die Hände am blutverschmierten Kittel ab. Die Schatten unter seinen braunen Augen verraten Müdigkeit. "Ich kenne die Jungs. HabŽ auch Anzeige erstattet. Aber was bringt das schon." Belkacem packt die nächste Kiste mit Geflügel und wuchtet sie in den Kühlraum seiner Metzgerei. Gegenüber steht das ausgebrannte Skelett eines Ford Fiesta.
Seit dreieinhalb Jahren bietet der gebürtige Marokkaner nach islamischen Riten geschlachtetes Fleisch in Aulnay-sous-Bois am Stadtrand von Paris an. Die Geschäfte laufen gut. Belkacem ist das gelungen, was für die randalierenden Vorstadt-Jugendlichen in Frankreich wie ein Traum erscheint: Er hat sich erfolgreich integriert.
Schon elf Nächte in Folge brennen in Frankreichs "Cités" Autos, Schulen, Geschäfte. Was vor den Toren von Paris als Krawall von Einwanderersprösslingen gegen den verhassten Staat begann, breitet sich aus wie ein Flächenbrand über ganz Frankreich: Marseille, Lille, Cannes, Nantes, Avignon, Straßburg.
In Aulnay hat der Krawall eine neue Dimension angenommen: Es geht nicht mehr allein um das Misstrauen zwischen Franzosen unterschiedlicher Herkunft. Die Randalierenden rechnen auch ab mit denen aus den eigenen Reihen, die den Durchbruch in die bürgerliche Gesellschaft geschafft haben. Die Verlierer bestrafen die Sieger.
Vergangene Woche brannte in Aulnay das Renault-Autohaus ab. Die, die dort ihr Brot verdienten, sind nun so arbeitslos wie die Täter selber. Der republikanische Grundsatz der "Egalité", der Gleichheit, bekommt eine neue Bedeutung.
"Schon vor einem halben Jahr haben einige Typen meinen Laden demoliert", erzählt Fleischer Belkacem. Dabei krachten sie mit einem geklauten Wagen frontal in das Geschäft. Geklaut wurde nichts. Jüngst drohten ihm Jugendliche: "In der nächsten Nacht ist dein Geschäft dran."
Die Bewohner von Aulnay beginnen, sich zu wehren. Am Samstag versammeln sich 500 Demonstranten zu einem Schweigemarsch durch die 80 000-Einwohner-Stadt, direkt vorbei an der berüchtigten "Cité de 1000/1000" mit seinen zehnstöckigen Mietskasernen. Soziale Brennpunkte wie dieser sind es, von denen im ganzen Land die Gewalttätigkeiten ausgehen. Hier in Aulnay brannten Jugendliche vergangene Woche das Begegnungszentrum nieder.
Bürgermeister Gérard Gaudron und die Stadträte tragen ihre blau-weiß-roten Schärpen. "Wir weichen nicht der Gewalt", ruft Gaudron in die Menge. Applaus. Jemand stimmt die Marseillaise an.
Drumherum bietet sich ein Szenario wie nach einem Bürgerkrieg. An der Straße des 8. Mai, an der auch die Fleischerei von Gri Belkacem liegt, räumen Männer die Trümmer eines ausgebrannten Ladens weg. Alle hundert Meter steht ein ausgebranntes Autowrack. Keine Telefonzelle hat noch eine einzige intakte Glasscheibe. Der Geruch verbrannten Kunststoffs liegt in der Luft.
1,90 Meter, kräftige Oberarme: Ange Andongui sieht nicht so aus, als könnte ihn so leicht etwas umhauen. Andongui ist Sozialarbeiter in Aulnay. Einige Meter von der Fleischerei Gri Belkacems entfernt mustern Polizisten eine Gruppe Jugendliche. Es dämmert. Eine blonde Frau presst ihre Einkaufstüte fest an sich und huscht an den Polizisten vorbei.
"Letztes Jahr haben wir hier einen 15-Jährigen beerdigt, den ein Gleichaltriger erstochen hatte", erzählt Andongui, "da ist es mir lieber, sie zünden Autos an." Seit Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen 2002 überraschend in die zweite Runde einzog, hätten die Vorstädte "aus der Politik nur noch repressive Äußerungen" vernommen. Für die Gewalt habe nur "der Auslöser gefehlt".
Ein Stück weiter auf der Straße des 8. Mai sitzen Medhi, 29, und Mohammed, 33, auf dem Rand einer Mauer mit ihren Kumpels. Sie tragen Trainingsjacken, Jogginghosen und um den Hals Handys. Sie sind in Frankreich geboren und haben französische Pässe.
Medhi hat sogar in der französischen Armee gedient. Als geachteter Staatsbürger fühlt er sich deshalb nicht. "Wenn die Polizei bei einer Kontrolle meine Papiere sehen will, sagen die Beamten nie ,Guten TagŽ. Sie machen immer sofort riesiges Theater und drohen", erzählt er. Die Stimmung im Viertel sei auf dem Nullpunkt: "Alle hier haben Angst. Auch die Jugendlichen."
Medhi und Mohammed fühlen sich schon jetzt als die Verlierer der Gewaltwelle. "Die Leute aus den Vorstädten werden noch mehr geächtet werden, als dies jetzt schon der Fall ist", sagt Medhi. "Der Einzige, der von dem Chaos hier profitieren wird, ist der Rechtsextremistenanführer Le Pen."
Quelle: Handelsblatt.com
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