Aus einem Tagebuch Dienstag, 30. April Vor gut zwei Monaten begleitete ich einen Moslem zum Freitagsgebet. Ich hatte ihn im Zug kennengelernt, er las ein Buch, ich las ein Buch, er kannte mein Buch und sprach mich an.
Ich begleitete ihn, weil ich erleben wollte, wie es sei, wenn sich entwurzelte Männer treffen, um eine der Wurzeln zu gießen, die sie mit sich tragen und die in der Fremde entweder Halt zu bieten vermag oder vertrocknet.
Ich traf zur angegebenen Zeit am bezeichneten Ort ein, also kurz nach Mittag vor dem Kulturzentrum des Stadtteils. Ein großer Raum darin, Mehrzweck, mit niedriger Decke und Sprossenwänden, verschiebbaren Raumteilern und fadem Linoleum – wir würden ihn als Verlag, als Szene nie und nimmer anmieten können, um darin eine Buchmesse zu veranstalten oder ein Fest. Die Moslems aber besitzen einen Vertrag bis Ende des Jahres, Freitag für Freitag, stets für einen halben Tag.
Mahmud entdeckte und begrüßte mich, es war die typische Geste: Er griff mit beiden Händen nach meiner rechten Hand und hatte zuvor beide Handflächen kurz an seine Brust gedrückt. Wir betraten die flache Halle. Im Vorraum hunderte paar Schuhe. Ich ließ meine an und rückte einen Stuhl ganz nach hinten an die Wand, setzte mich und schaute zu, wie Männer, keine Frauen, nur Männer in die Halle drängten.
Es waren vor allem junge Männer, und es waren Männer aus aller Herren Länder: viele Araber, viele Syrer und Afghanen, manchmal Brüder, das sah man, wenige ältere Väter mit ihren Söhnen; kleine stämmige Tschetschenen, magere schwarze Riesen unter Tuch, Tschad, Mauretanien, Hirtenaura jedenfalls, und ganz sicher noch nicht “angekommen” wie die Türken und Albaner, die in Trainingshosen erschienen, alle vom selben Barbier entlassen, ölig, à la Neukölln, irgendwie längst im Geschäft.
Alle Stühle waren zusammengeschoben und weggestapelt, denn es wurden Teppiche entrollt, Teppiche in allen Farben und Größen, längs, quer, auch Isomatten und Rettungsdecken, Hauptsache irgendetwas, nie der nackte Boden. Ich nahm wahr, wie Unterlagen gedreht wurden, damit der Nachbar Platz darauf fand. Einladende Zeichen, aber auch schon innere Sammlung bei manchem, der Vorgebete verrichtete und sich vom Gerücke und Gerede nicht stören ließ.
Die Reihen rückten auf mich zu, der Raum füllte sich. Ich wurde gemustert und begrüßt, man bot mir Platz auf einem Teppich an, aber ich verwies stumm auf meinen Stuhl und blieb auch dann sitzen, als ein Vorsänger anstimmte, das Gemurmel verstummte und die Beter sich ausrichteten, mit Blicken nach links und rechts und letztem Geruckel.
Der Sänger kam zum Ende. Neben ihm erhob sich ein noch recht junger Mann und setzte an. Die Stimme war die eines Offiziers: klar, selbstbewußt, auch in den Pausen, überlegt und überlegen, begleitet von sparsamer Gestik.
Anrufungen, Verbeugungen aus knieender Haltung heraus, vorgebeugt verharrend, dann Entspannung und Predigt. Das war keine Kontaktaufnahme mit nachaufklärerischen Glaubensskeptikern, kein Abholen, keine liturgische Gefälligkeit. Es war ordnender Ton, Glaubensaufforderung und eine Ansage, ein warmes und verbindliches, befehlendes und versprechendes Arabisch.
Ich verstand natürlich kein Wort und wanderte ab, dachte zurück an den Gottesdienst, in dem wir neulich waren: der Priester als Erklärbär, ohne Autorität, unsicher, fast verlegen über die alten Riten; viel Ich, viel absurdes Liedgut, Unverbindlichkeit und ein mit alter, gebrochener, schwacher Hand angesetzter Leberhaken gegen rechts, der mir nicht wehtat, mir aber alles vergällte, was hätte sein sollen: Vertikalität, sakraler Raum, Gottesdienst.
Dann war das Freitagsgebet zuende. Ich habe so etwas unter Christen noch nie erlebt. Mahmud holte mich ab. Die Männer standen in Gruppen vor dem Kulturzentrum, die nächsten zweihundert, dreihundert jungen Männer drängten in den Saal, mitten in einer ostdeutschen Stadt, alle bereit, an einem Freitagnachmittag sich auszurichten.
Warum sind das so viele? – Ganz klar, sagte Mahmud, weil der Glaube wichtig ist und weil er uns alle verbindet. – Ist das stärker als in der Heimat? – Auf jeden Fall, vor allem jetzt, wo wir uns durchsetzen müssen. – Gegen wen? – Gegen das, was Euer System aus uns machen will. – Was will es denn aus Euch machen? – Kein Glaube, Konsum, Alkohol, kein Respekt, keine Ehre, nur Amerika und die Juden und schwache Menschen, überall. – Aber das ist unser Land, das ist unsere Geschichte, wir sind so geworden, wir waren anders, wir haben härter gekämpft als Ihr je. – Dann kämpfe wieder. Aber glaub mir: keine Chance.
(Unter den dreihundert jungen Männern der ersten Gebetsschicht waren vielleicht zwanzig, dreißig deutsche Konvertiten. Man erkannte sie an den Genen, am Phänotyp, am Versuch, alles so zu machen, wie es im Buche steht. Sie sind wohl zum ersten Mal in ihrem Leben unter Männern, nur unter Männern, klar ausgerichtet, eingemeindet, beauftragt.
Ich bin mir sicher: Wir laufen in diesem Bereich auf eine Katastrophe zu, auf einen Konversionsdruck, der auf die Bereitschaft eines Teils unserer Leute trifft, das Angebot der Unterordnung, der Unterwerfung anzunehmen. Denn es gibt Männer, junge Männer, die vor allem unter Männern sein wollen, in starken Gruppen, im Einsatz. Wenn dagegen kein Kraut wächst, verlieren wir sie.) --------------------------------- Hinweis: Auf diesen Text wurde ich durch einen Artikel der in der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe zu Pfingsten) aufmerksam. Dieser Hinweis mag wegen der Bezahlschranke nur als Quellenangabe dienen, auch wenn mir die Lektüre des Artikels sehr empfehlenswert erscheint.
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