P O L I T I K Weihnachten ist Deadline Gerhard Schröder hat sich zum wiederholten Mal innerhalb weniger Tage genötigt gesehen, die Genossen daran zu erinnern, dass er die Brocken hinschmeißt, wenn die Agenda 2010 nicht durchkommt. „Mein politisches Schicksal will ich ganz bewusst verbinden mit der Durchsetzung dieser Reformen“, sagte der Bundeskanzler und SPD-Chef am Dienstag in Berlin bei einer Festveranstaltung.
Es müsse noch vor Weihnachten über die Strukturreformen entschieden werden. „Wenn wir das bis Weihnachten nicht schaffen, schaffen wir es nicht mehr“, sagte Schröder. Es müsse eine „große nationale Kraftanstrengung“ geben, damit der Ruck durch Deutschland gehe, den der frühere Bundespräsident Roman Herzog beschworen habe. Dabei gehe es um „ökonomische Vernunft und soziale Sensibilität“ und „ausdrücklich nicht um eine große Koalition“. Schröder räumte ein, dass er „vielleicht zu spät angefangen“ habe, die Reformen auf den Weg zu bringen.
Schröder bekommt Abweichler nicht in den Griff
Nach dem Streit um die sechs SPD-Abweichler bei der Abstimmung zur Gesundheitsreform am vergangenen Freitag war Schröder bei einer Vorstandssitzung am Montagabend mit dem Versuch gescheitert, die Kritiker in der eigenen Partei auf Linie zu bringen. Um den Eindruck der Zerrissenheit nicht zu vertiefen, verzichtete die SPD-Spitze auf eine formale Abstimmung über den umstrittenen Leitantrag für den Parteitag am 1. November. Darin wird für radikale Neuerungen im Sozialsystem plädiert, die deutlich über Schröders Reformagenda 2010 hinausgehen.
Laut Generalsekretär Olaf Scholz wurde der Antrag nach lebhafter Diskussion mehrheitlich gebilligt. Scholz berichtete von „Signalen“, dass die Gegner des Reformkurses den Aufruf zur Geschlossenheit befolgen wollten.
Mitglieder der SPD-Linken, darunter deren Wortführerin Andrea Nahles, widersprachen. Es habe „leider keine Annäherung gegeben“, sagte sie. Nahles warnte vor einer „Erosion an der Basis“, wenn der Reformkurs überzogen werde. Eine der sechs Abweichler, Sigrid Skarpelis-Sperk, berichtete nach der Vorstandssitzung, es sei in „harter und offener Atmosphäre“ darüber debattiert worden, „ob wir nicht auch unseren Kurs ändern müssen“. Die Kontrahenten hätten sich allerdings „nicht aufeinander zubewegt“.
Auf der Sitzung hatte Schröder die Offensive abrupt eröffnet: Die linken Kritiker sollten aufpassen, dass sie mit ihren Argumenten „nicht Arm in Arm mit Stoiber agierten“, so Schröder. Gezielt suchte sich der Kanzler dann Juso-Chef Niels Annen heraus, um seinen Groll über die endlosen Negativ-Schlagzeilen der letzten Tage abzuladen. Annen sei doch nur Vorsitzender einer „kleinen, unwichtigen Arbeitsgruppe“, sagte der Kanzler nach Angaben von Sitzungsteilnehmern. Er wisse gar nicht genau, was der Chef der SPD-Nachwuchsorganisation in der Runde zu suchen habe.
„Guckt mal, wie das 1982 gelaufen ist“
Bereits am Wochenende hatte Schröder im Zusammenhang mit dem innerparteilichen Streit in der SPD um seine Reformprojekte an den Untergang der sozialliberalen Koalition vor 21 Jahren erinnert. „Guckt mal genau hin, wie das 1982 gelaufen ist“, richtete Schröder eine Warnung an seine eigene Partei, „als die sozialliberale Koalition in einem Erosionsprozess sich auflöste. Guckt noch genauer hin, wie lange es gedauert hat, bis man wieder dran war.“
1982 war die sozialliberale Regierung von Helmut Schmidt von CDU-Kanzler Helmut Kohl abgelöst worden, nachdem die FDP die Seiten gewechselt hatte, aber Schmidt auch durch anhaltende Kritik aus der eigenen Partei untergraben worden war. Kohl regierte dann 16 Jahre lang.
Schröder drohte mit Rücktritt
Auch unmittelbar vor der Abstimmung im Bundestag über die Gesundheitsreform hatte Schröder einmal mehr mit Rücktritt und dem Ende der Koalition gedroht. „Wenn ihr mir nicht folgen wollt, könnt ihr euch einen anderen suchen“, wurde der Kanzler und SPD-Chef am Freitag zitiert. Er habe am Donnerstagabend bei einer Sitzung mit den Landes- und Bezirksvorsitzenden hinzugefügt, wenn jene, die seine Politik inhaltlich kritisierten, eine Mehrheit bekämen, dann könnten sie es ja machen. Er werde dem nicht im Wege stehen. „Dann gehe ich als einfaches Mitglied in einen Ortsverein und werde die benennen, die dafür die Verantwortung tragen, und das jahrelang“, wurde Schröder zitiert.
Linke will Hartz-Gesetze kippen
Die Abweichler bei den Sozialdemokraten drohten mittlerweile allerdings damit, ihrem Parteichef auch beim nächsten zur Abstimmung stehenden Reformprojekt nicht zu folgen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Horst Schmidbauer kündigte ein Nein auch zu den Hartz-Gesetzen an.
Nach seiner Ablehnung der Gesundheitsreform könne er sich vor Zuspruch im Wahlkreis und aus dem gesamten Bundesgebiet kaum retten, sagte Schmidbauer der Chemnitzer „Freien Presse“ vom Dienstag. Da fielen die Kritik der Partei- und Fraktionsführung sowie die Aufforderungen, wegen seines Abstimmungsverhaltens das Mandat aufzugeben, nicht ins Gewicht.
Schmidbauer verlangte von der Fraktionsspitze, Schlussfolgerungen für die Abstimmung zu den Hartz-Gesetzen am 17. Oktober zu ziehen. Es sei falsch, bei der Berechnung des neuen Arbeitsgeldes II Lebensversicherungen mit einzubeziehen. Sollte dies nicht geändert werden, werde er wie viele andere erneut dagegen stimmen. Da es beim grünen Koalitionspartner ähnliche Bedenken gebe, wäre die Mehrheit der Koalition gefährdet, warnte der SPD-Politiker.
Youngster sieht Schröder überfordert
Hans-Peter Bartels vom „Netzwerk“, einem Zusammenschluss junger SPD-Abgeordneter, gab dem Kanzler eine Mitschuld an der Krise. Mittelfristig müsse sich Schröder wegen Arbeitsüberlastung auf das Amt des Regierungschefs konzentrieren, forderte er am Montag in der „Mitteldeutschen Zeitung“. 30.09.03, 16:00 Uhr Quelle: http://news.focus.msn.de/G/GN/gn.htm?snr=125050&streamsnr=7&q=1
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