HCV-Wundermittel: Wer zahlt die Zeche? 22. August 2014
Der Wirkstoff Sofosbuvir schlug wie eine Bombe ein: Erstmals haben Hepatitis C-Patienten realistische Chancen, geheilt zu werden. Wissenschaftler fordern deshalb flächendeckende Screenings. Die Leistungsträger sehen der Forderung mit gemischten Gefühlen entgegen.
Gilead Sciences hat allen Grund zur Freude: Seit Dezember 2013 ist das Medikament Sovaldi® (Sofosbuvir) in den USA und in Kanada zugelassen. Die europäische Zulassung folgte im Januar 2014. Bereits im April analysierte Thomson Reuters die Lage und gab beachtliche Prognosen ab. Experten erwarten demnach für das Jahr 2014 einen Umsatz von 2,4 Milliarden US-Dollar. Bis 2017 soll die Umsatz-Schwelle von neun Milliarden überschritten werden. Angesichts der Behandlungskosten ist das nicht überraschend. Amerikanische Apotheker sprechen bereits von der „1.000-Dollar-Pille“. Hierzulande sind 700 Euro pro Tablette fällig. Medizinischer Mehrwert teuer erkauft
Ein Ende der Preispolitik ist nicht zu erwarten, schließlich profitieren Patienten beträchtlich vom neuen Inhibitor der RNA-abhängigen NS5B-Polymerase. Bisher mussten Patienten interferonhaltige Kombinationstherapien 16 bis 72 Wochen lang über sich ergehen lassen – mit einer vagen Aussicht auf Heilung. Ihnen machten Nebenwirkungen schwer zu schaffen, insbesondere psychiatrische Probleme wie Depressionen. Vor wenigen Wochen hat sich der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) mit Sovaldi® befasst. Bei einer Kampfabstimmung setzten sich Vertreter der Ärzteschaft, der Kliniken sowie der Patienten gegen die Krankenkassen durch – mit sieben Ja-Stimmen, sechs Nein-Stimmen und einer Enthaltung. Apotheker sind im entscheidenden Gremium nach wie vor nicht vertreten. In seiner abschließenden Bewertung konstatiert der G-BA einen „beträchtlichem Zusatznutzen“ bei chronischer Hepatitis C-Virusinfektion. US-amerikanische Zulassungsbehörden sprechen von einer „breakthrough therapy“. Das betrifft allerdings in erster Linie therapienaive Patienten mit dem Genotyp 2. Sofosbuvir: In Massen – oder in Maßen?
Grund genug für Jagpreet Chhatwal vom M. D. Anderson Cancer Center in Houston, neue Strategien durchzuspielen. Er vermutet eine hohe Zahl von unerkannten Infektionen bei Menschen der geburtenstarken Jahrgänge. Sinnvoll wäre, alle „Baby Boomer“ zu screenen und gegebenenfalls zu behandeln. Um den Mehrwert zu ermitteln, hat der Forscher mathematische Simulationen durchgeführt – mit erstaunlichen Ergebnissen: Allein in den Staaten ließen sich knapp 500.000 bislang unentdeckte HCV-Fälle diagnostizieren, falls Menschen der Geburtsjahrgänge 1945 bis 1965 untersucht würden. Bei Screenings mit allen Zielgruppen erwartet Chhatwal sogar, knapp eine Million neuer Infektionen nachweisen zu können. Er hofft, 161.500 Todesfälle durch Lebererkrankungen, 13.900 Lebertransplantationen und 96.300 hepatozelluläre Karzinome zu verhindern.
Bei uns sind Verantwortliche deutlich zurückhaltender als Chhatwal. Der „Aktionsplan für eine nationale Strategie gegen Virushepatitis in Deutschland“ sieht vor, lediglich Risikogruppen zu untersuchen. Laut Angaben des Robert-Koch-Instituts treten Neuinfektionen vor allem bei Menschen auf, die sich Drogen spritzen (87,4 Prozent). An zweiter Stelle stehen Männer, die Sex mit Männern haben (MSM; 5,7 Prozent), gefolgt von Patienten, die sich vor 1992 über Blutprodukte infiziert hatten (3,8 Prozent) sowie Dialysepatienten (2,6 Prozent). Nicht immer lässt sich die Ursache zweifelsfrei feststellen. Krankenkassen fürchten Kostenwelle
Die Kostenträger reagieren nicht ohne Grund nervös: In Deutschland haben sich etwa 400.000 bis 500.000 Menschen mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert. In jedem dritten Fall kommt es zu schweren Lebererkrankungen, schätzen Experten. Laut Hochrechnungen der AOK Niedersachsen werde Sovaldi® bis Ende 2014 mit mindestens einer Milliarde Euro zu Buche schlagen – Pessimisten sprechen sogar von fünf Milliarden Euro. AOK-Chef Jürgen Peter kritisiert: „Es darf nicht sein, dass ein einziges Medikament, welches in der Herstellung geschätzt 100 Euro für einen Behandlungszyklus kostet, zu einem Preis von 60.000 Euro abgerechnet wird.“ Voraussetzungen, die die Verhandlungen zwischen Gilead und Vertretern des GKV-Spitzenverbands sicher nicht einfach machen. Sofosbuvir: „Pure Gier“?
Kritik an der Preisgestaltung kommt auch von MEZIS („Mein Essen zahl ich selbst“), laut Selbstdarstellung eine „Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte“. Dr. Christiane Fischer, ärztliche Geschäftsführerin von MEZIS, sagt: „Das ist pure Gier. Der utopische Preis ist nicht die Folge einer komplizierten Herstellung, denn das sind nur circa 100 US-Dollar für die gesamte zwölfwöchige Therapie.“ Auch leben 90 Prozent aller Hepatitis C-Patienten in Ländern der zweiten oder dritten Welt. Für sie ist Sofosbuvir nahezu unbezahlbar. Mittlerweile werden Gesundheitspolitiker ebenfalls nervös. „Sovaldi® ist zwar eine echte Innovation und ein Segen für viele Patienten“, sagte Jens Spahn, Gesundheitsexperte der Union. „Aber das berechtigt noch lange nicht zu Mondpreisen.“ In der Schweiz haben Vertreter des Bundesamts für Gesundheit (BAG) bereits die Konsequenzen gezogen: Nur Patienten, deren Leber vom HCV bereits angegriffen wurde oder deren Körper sonstige schwere Symptome zeigt, erhalten den Wirkstoff Sofosbuvir.
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