EU-Erweiterung Der lange Schatten Von asper von Altenbockum
02. April 2004 Die Ost-Erweiterung der EU begleitet ein geschichtspolitischer Schatten, der in regelmäßigen Abständen über das Baltikum hinweghuscht. Jüngstes Beispiel ist die Rede der ehemaligen lettischen Außenministerin und künftigen EU-Kommissarin Kalniete zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse. Sie widmete sich darin der Geschichtsschreibung des ehemals geteilten Kontinents, die noch immer davon beeinflußt sei, "daß nur wenige Menschen die Kraft hatten, der bitteren Wahrheit ins Auge zu blicken, insbesondere der Tatsache, daß der Terror (nach der Befreiung vom Nationalsozialismus) in der einen Hälfte Europas weiterging, wo hinter dem Eisernen Vorhang das Sowjetregime weiter Genozide an den Völkern Osteuropas verübte und in der Tat auch am eigenen Volk".
Kalniete griff damit die Motive der kritischen Erinnerungskultur auf, derentwegen Lettland und die beiden anderen baltischen Staaten Estland und Litauen seit Beginn der neunziger Jahre zurechtgewiesen wurden - aus naheliegenden Gründen aus Rußland, aber auch aus Westeuropa und Amerika, wo die Gleichsetzung von "sowjetischem Faschismus" und Nazismus als "Revisionismus" gebrandmarkt wurde. Auch für Kalniete steht fest: "Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erhielten die Forscher Zugang zu den archivierten Dokumenten und Lebensgeschichten dieser Opfer. Diese belegen, daß beide totalitären Regime - Nazismus und Kommunismus - gleich kriminell waren."
Moralische Verurteilung
Gleich kriminell - das war auch die heftig kritisierte Botschaft, mit der sich die lettische Präsidentin Vike-Freiberga vor vier Jahren an die "Holocaust-Konferenz" in Stockholm gerichtet hatte. Vike-Freiberga nahm damit Stellung zur Art und Weise, wie Lettland nach Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus der Zeit deutscher und sowjetischer Besatzung umgegangen war - und auch die Rede Kalnietes ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Lettland war Mitte der neunziger Jahre vorgeworfen worden, Verbrechen des Stalinismus besonders scharf, den Mord an den lettischen Juden während der deutschen Okkupation dagegen besonders lasch zu verfolgen. Die Vorwürfe erreichten jedes Jahr ihren Höhepunkt, wenn Angehörige der ehemaligen "Freiwilligen lettischen Waffen-SS-Legion" in einem Schweigemarsch in Riga ihrer Toten gedachten.
Die politische Führung in Riga sah sich deshalb mehrmals dazu veranlaßt, gegen den "Skandal" einer moralischen Verurteilung des Landes vorzugehen - das richtete sich vornehmlich gegen Rußland, von wo das Gespenst einer "faschistischen Hetzjagd" aufgebaut wurde. Prozesse gegen mutmaßliche Kollaborateure der deutschen Besatzer kamen allerdings nicht auf Druck Moskaus zustande, sondern nach diplomatischen Interventionen Washingtons - etwa im Fall Konrads Kalejs', eines ehemaligen Offiziers des "Arajs-Kommandos", das an der Ermordung von 30 000 Juden beteiligt war.
Schablonendenken
Die Kalejs-Affäre war der Grund, warum Vike-Freiberga in Stockholm gegen die Legende anredete, Lettland reserviere für sich die Rolle des Opferlamms, verschließe die Augen vor der eigenen Schuld und übertünche damit unter anderem antisemitische Traditionen des Landes. Nicht von der Hand zu weisen ist der Vorwurf, dabei handele es sich um westeuropäisches Schablonendenken. Falsch ist die Behauptung, der lettische Antisemitismus sei vor und während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 eine starke, gar eine Massenbewegung gewesen, die auf den Nationalsozialismus nur gewartet habe.
Unter dem autokratischen Präsidenten Ulmanis, den die Sowjets wie mehrere tausend andere Letten nach dem Einmarsch von 1939 deportiert hatten, waren nationalistisch-antisemitische Gruppierungen verboten worden. In den zwanziger Jahren, nach der Revolution von 1919 und der Herstellung der lettischen Unabhängigkeit, die der baltendeutschen Herrschaft ein Ende setzte, hatten es die Minderheiten in Lettland - ob die entmachtete baltendeutsche oder die jüdische - zwar nicht leicht.
Umklammerung
Die Rechte, die ihnen zugestanden wurden, waren in Europa jedoch einzigartig - das ist nebenbei eine Tradition, von der heute die russische Minderheit profitiert. Jüdische Schulen genossen in der ersten Zeit der lettischen Unabhängigkeit große Eigenständigkeit. Eine der ersten Schulen in Riga, die Ende der achtziger Jahre, als sich Lettland aus der sowjetischen Umklammerung löste, wiedereröffnet werden konnte, war eine jüdische.
Die Zahl der am Judenmord in Lettland beteiligten Letten wird in seriösen Untersuchungen zwischen 300 und 1500 angegeben - nicht mit 110 000, wie eine pure Addition lettischer "SS-Angehöriger" und lettischer Polizisten unter deutschem Kommando ergibt. Nicht nur solchen Details widmet sich seit Ende der neunziger Jahre eine lettische Historiker-Kommission, deren Arbeit dazu geführt hat, daß der Holocaust in Lettland besser erforscht ist als in manch anderem "revisionistischen" Land Europas.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.04.2004, Nr. 80 / Seite 10
einen wahnsinn den keiner wollte! brüssler größenwahn!
############################# gruß proxi0
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