Liebe Angela Merkel!
Die vergangenen Monate haben mich verändert. Ich würde Ihnen jetzt gerne höchst staatstragend davon schreiben, dass ich „nachdenklich“ geworden bin. Oder dass ich mir „Sorgen machen“ würde. Das ist es nicht. Schon längst nicht mehr. Ich bin stinksauer, weil ich mein eigenes Land nicht mehr wieder erkenne. Mitten in Deutschland schäumt Menschenhass aus den Gullis der Dörfer und Städte. Und ich bin es leid, dass Teile der Bundesregierung diesem Treiben mit einer an Fahrlässigkeit grenzenden Gelassenheit zuschauen. Fast jeden Tag gibt es neue Anschläge auf bewohnte und unbewohnte Flüchtlingsheime. In Halberstadt wurden Helfer der Roten Kreuzes kürzlich vor einer Asylbewerberunterkunft mit Steinen attackiert, in Freital explodierte eine Bombe unter dem Auto eines Kommunalpolitikers, der sich für Menschen eingesetzt hat, die in größter Not unsere Hilfe brauchen. Frau Merkel: Mir wird schlecht, wenn ich die hasserfüllten Gesichter der Demonstranten sehe, die vor dem Freitaler Asylbewerberheim mit der Herzenswärme eines Styroporblocks die Straßen entlang marodieren und ihren Zorn auf die Welt in den sächsischen Abendhimmel krakeelen. Vor unseren Augen ereignet sich eine rechte Terrorwelle. Während die NSU noch aus dem Untergrund heraus agierte, können sich die rechten Terroristen des Jahres 2015 auf eine Unterstützerbasis von mehreren Millionen Deutschen berufen, die das Treiben des braunen Mobs zumindest dulden, wenn nicht gar gutheißen. Der kranken Logik dieser Menschen folgend gibt es eine Art „Volkswillen“, der Gewalt gegen ausländische Mitbürger rechtfertigt. Auch Ihr eigener Amtssitz wurde Anfang Juli Ziel eines versuchten Brandanschlags durch einen rechten Terroristen. Journalisten, Schriftsteller und Aktivisten bekommen Morddrohungen. Das Bundeskriminalamt warnt davor, dass die Debatte um die Flüchtlingspolitik dazu geeignet sei, einer neuen "völkischen Ideologie" den Weg zu bereiten. Sichtbar werde diese Entwicklung durch eine "drastisch angestiegene" Zahl an Übergriffen gegenüber Asylbewerberheimen. Überall in Deutschland leben potenzielle Terroristen, die sich schon längst von den gesellschaftlichen Diskursen verabschiedet haben. Die deutsche Medienlandschaft firmiert bei diesen Menschen unter dem Label „Lügenpresse“, und Politiker sind „Volksverräter“. Und wissen Sie, Frau Merkel: Nicht genug, dass es diesen Hass in der Mitte unserer Gesellschaft gibt. Die Politik tut sich immer noch schwer damit, den neuen rechten Terror auch als Bedrohung zu verstehen. Jahrelang wurde die Sorge vor dem islamistischen Terrorismus als Begründung für neue Sicherheitsgesetze instrumentalisiert. Jetzt ist der Terror da. Nur anders. Hausgemacht, geschürt von rechten Rattenfängern. Und kaum jemand weiß so recht damit umzugehen. Wir haben es als Gesellschaft verpennt, uns den Anfängen zu wehren. Es gab genug Anzeichen dafür, dass dieses Land voller Sprengstoff steckt. Die Griechenland-Debatte. Die Montagsmahnwachen. Pegida. Als Anfang des Jahres der Hass zum ersten Mal durch die Straßen schwemmte, hatten Unionspolitiker wie der sächsischen Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) nichts Besseres zu tun, als sich mit flotten Sprüchen den neuen rechten Wirrköpfen anzubiedern. „Der Islam gehört nicht zu Sachsen“, sagte Tillich noch in Januar, mit Augenzwinkern in Richtung der Pegida-Demonstranten. Das war eine Bankrotterklärung an die gestalterischen Möglichkeiten der Politik. Eine Kapitulation vor den Modernisierungsverlierern. Und niemand hat ihn zurückgepfiffen. Auch Sie tragen an der Entwicklung eine Mitschuld, Frau Merkel. Sie haben viel zu selten ihre Politik erklärt. Mehr noch: Sie haben es oft sogar bewusst vermieden. Davon zeugen nicht nur die beiden Wahlkämpfe von 2009 und 2013, in denen Sie Ihr Bestes getan haben, dass über alles diskutiert wird, nur nicht über politische Konzepte und Ideen. Auch mit Ihren angeblich „alternativlosen“ Entscheidungen in der Finanzkrise und bei der „Griechenland-Rettung“ haben Sie dazu beigetragen, der politischen Kultur in Deutschland den Saft abzudrehen. Genauso mit Ihrem Schweigen zur NSA-Affäre. Mit Ihrer halbherzigen Positionierung in der Flüchtlingsfrage. Mit Ihrer Wortlosigkeit gegenüber den Elitenkritikern. Immer, wenn man von Ihnen klare Kante erwartet hätte, herrschte eisige Stille. Sie haben die Kommunikation zwischen Politik und Bevölkerung abgewürgt. Die Menschen erleben Sie nicht als politische Akteurin, sondern allenfalls aus Hausmeisterin der Nation, die dafür sorgt, dass nach 22 Uhr Ruhe auf den Fluren der Republik herrscht. Der Fairness halber sei gesagt: Gut 42 Prozent der Wähler war das bei der vergangenen Bundestagswahl auch gerade recht so. Was auch immer das über Deutschland aussagen mag. Mit Ihrer Tatenlosigkeit haben Sie genau jenes politische Vakuum erzeugt, dass die Radikalen vom rechten Rand jetzt ausnützen. Wo es keine Debatte mehr um die Grenzen der Toleranz gegenüber fremdenfeindlichen Ressentiments gibt, verschwinden diese Grenzen eben. Dann kommt der braune Mob und übernimmt den Diskurs. Das ist eine Lehre aus der deutschen Geschichte. Sie reden gerne darüber, dass Sie im Supermarkt Artischocken einkaufen. Auch ist bekannt, dass Sie an Deutschland die Wertigkeit der Fenster schätzen. Bei Männern mögen sie "schöne Augen". Verstehen Sie? Das ist so absurd: Weil wir nicht wissen, was Sie zu Stanislaw Tillichs Ausfällen in Sachen Islam denken. Weil Sie seit Wochen so seltsam still dabei zuschauen, wie die ausländerfeindlichen Proteste gegen Asylunterkünfte immer weiter eskalieren. Unser gemeinsamer Dachstuhl brennt. Und Sie gießen sich noch einen Tee ein. Am brutalsten erleben das übrigens gerade jene, die sich für Flüchtlinge engagieren, sie bekommen täglich den Hass der Besserdeutschen zu spüren. Es ist armselig, dass wir diese Menschen allein lassen mit all dem braunen Dreck. Wir haben in den vergangenen Jahren viel von Krisen gesprochen. Diese tiefe Gesellschaftskrise aber, in der Deutschland nach zehn Jahren unionsgeführter Bundesregierungen steckt, ist gefährlicher als alles, was dieses Land in diesem Jahrhundert bisher erlebt hat. Teile unserer Gesellschaft drohen abzudriften und sich zu radikalisieren, teilen nicht mehr die Werte, auf denen diese Republik aufgebaut ist. Und es ist äußerst zweifelhaft, wie und wann sich diese Menschen wieder für das Grundgesetz begeistern lassen. Im schlimmsten Fall ist dies der Anfang vom Ende des politischen Systems, wie wir es bisher gekannt haben. Wenn Sie das verhindern wollen, fangen Sie bitte an. Jetzt.
*Sebastian Christ*
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