Durch die leidvollen Erfahrungen in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts, jetzt auch schon des 21., sind wir allerdings mehr als einmal belehrt worden, dass die Weisheit des Aischylos einer Erweiterung bedarf: Die Wahrheit stirbt nicht erst „im Krieg“, sondern schon in der Entstehungsphase einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Während eines Krieges waren die Führungseliten eines kriegführenden Landes jeweils bestrebt, die Glaubwürdigkeit ihrer Rechtfertigungsbehauptungen durch ihre Kriegspropaganda zu untermauern. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges – um diesen Fall zu nehmen[2] – kam dann nicht etwa die Wahrheit auf den Tisch, sondern die Verschleierung der Wahrheit respektive der Kampf um die Wahrheit setzte sich weiter fort. Der in Deutschland nach 1918 erbittert geführte Meinungskampf über die Kriegsschuldfrage bietet dafür ein reiches Anschauungsmaterial.
Kriegsmetaphysik – eine traditionsreiche Verschleierungsstrategie
Wenn der Begriff Kriegslüge fällt, denkt man gewöhnlich an einen Auslöser, einen konkreten Anlass wie zum Beispiel die Ermordung des österreichischen Thronfolgers im Juli 1914, der hernach zur Kriegsursache stilisiert wurde. Bei dieser Betrachtungsweise wird häufig vergessen, dass es im damaligen zeitgenössischen Denken eine Weltsicht gab, die gleichsam als Humus diente, auf dem die aktuelle Kriegslüge erst gedeihen konnte. Gemeint ist ein bestimmtes Denken über „den“ Krieg im Allgemeinen. Dieses Denken, das besonders im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts weit verbreitet war, bezeichne ich als Kriegsmetaphysik. Gemeint sind die Vorstellungen, „der“ Krieg sei „der Vater aller Dinge“ oder ein Naturereignis, das ausbreche wie ein Vulkan und das von Menschen nicht gebändigt werden könne; oder der Krieg sei von Gott gewollt, womöglich ein „Gottesgericht“; oder aber – als linke Variante – er sei ein gleichsam „naturnotwendiges“ Produkt des Kapitalismus beziehungsweise des Imperialismus.[4]Spätestens seit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jahrhundert verfolgten Aggressoren das Ziel, die eigene Verantwortung für die Entfesselung kriegerischer Gewalt vor der eigenen Bevölkerung zu verschleiern. Sie wussten, dass das eigene Lager nur durch eine Verteidigungslüge für den Krieg mobilisiert werden konnte. Der Krieg musste als eine gerechte Sache erscheinen, und als gerecht wurde nur die Verteidigung des eigenen Landes gegen einen Aggressor angesehen.
Sowie:
Erster Weltkrieg: „Mitten im Frieden überfällt uns der Feind“
Kriegsende 1918: Die verleugnete Niederlage
Zweiter Weltkrieg: Krieg gegen Polen
Überfall auf die Sowjetunion: Präventivkriegslüge
Der amerikanische Vietnamkrieg 1964-1975
Der erste Golfkrieg 1980-89Der
Kosovo-Krieg 1999 und der „Hufeisenplan“
" Es handelte sich um einen Angriffskrieg, der weder vom Völkerrecht noch vom Grundgesetz (Artikel 26) gedeckt war. Rest-Jugoslawien hatte Deutschland weder angegriffen noch ging von ihm eine Bedrohung aus."...
..." Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) präsentierte der internationalen Öffentlichkeit seinerzeit einen „Hufeisenplan“, wonach die serbische Regierung angeblich die Albaner systematisch aus dem Kosovo vertreiben wolle. Tatsächlich war dieser Plan frei erfunden.[34] Es handelte sich also um eine der üblichen Kriegslügen.[35]"
Der Dritte Golfkrieg: Erlogene Massenvernichtungswaffen
Die folgenschwere Ausnahme: Freie Berichterstattung im Vietnamkrieg
...Die Kriegspropaganda verbreitete Lügengeschichten, die vom einzelnen Bürger oder Soldaten kaum zu durchschauen waren. Im Strudel der Legenden, die den Krieg der Aggressoren vertuschen oder rechtfertigen sollten, ging gelegentlich die – unbestreitbare – Tatsache unter, dass es auch echte Verteidigungsfälle gab. Denken wir nur an die Beispiele Belgien 1914, Polen 1939 und Sowjetunion 1941.
In der Propaganda kriegführender Staaten ist die Berufung auf die Lehre vom „gerechten Krieg“ längst abgelöst worden von den politischen Kriegslügen. Vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte muss befürchtet werden, dass eine Revitalisierung dieser Lehre das Führen von Kriegen eher begünstigen würde als dass sie zu ihrer Verhütung beitragen könnte. Eine Politik der Kriegsverhinderung und der Deeskalation von Konflikten braucht keine Lehre vom gerechten Krieg.
https://www.humanistische-union.de/publikationen/...e-kriegsluegen-1/