Dr. Claus Harmsen Rechtsanwalt
Herrn Gerhard Schröder
Vorsitzender der SPD
Wilhelmstr. 141
10963 Berlin
Berlin, den 10. Dezember 2002
Parteiaustritt / offener Brief
Lieber Genosse Schröder, lieber Gerhard,
hiermit erkläre ich nach genau 25 Jahren schweren Herzens meinen Austritt aus der SPD zum Jahresende 2002. Solche Austritte wird es derzeit viele geben, so sei mir erlaubt, den meinigen kurz zu begründen.
Als junger Student, unpolitisch erzogen, habe ich mich lange gesträubt, mich parteilich zu binden. Ich wollte, letztlich auch mit Blick auf den angestrebten Beruf des Rechtsanwaltes - der uns verbindet - kritisch, aber politisch neutral bleiben. Dann lernte ich in meiner Heimatstadt Hamburg Herbert Wehner kennen. Er überzeugte mich von einem Engagement in der SPD und brachte mich persönlich in die Partei, in den Ortsverein Hamburg-Harburg, wo ich damals wohnte. Durch Wehner, dem ich lange verbunden blieb, lernte ich Willy Brandt, Olof Palme, Bruno Kreisky und viele andere große Sozialdemokraten kennen. Helmut Schmidt war für mich sowieso ein Held auf Grund seines uneigennützigen (!) pragmatischen Einsatzes bei der Hamburger Flutkatastrophe 1962. So etwas vergisst man nicht.
Durch berufliche Aufgaben in verschiedenen Orten Deutschlands kam ich nicht dazu, mich punktuell und örtlich mehr zu engagieren, mit einer Ausnahme. Für die Behindertenpolitik des Landes Niedersachsen, in dem ich seit langem meinen ersten Wohnsitz habe , habe ich mich nachdrücklich eingesetzt, um die Arbeit des derzeitigen Landesbeauftragten für die Belange der Behinderten, Karl Finke, zu unterstützen. Zunächst in meiner Eigenschaft als Präsident des Deutschen und später des Internationalen Schwerhörigenbundes, danach lediglich als Experte . Dies werde ich auch weiterhin tun, weil eine gute Sache nicht unter persönlichen Frustrationen leiden sollte.
Diese Frustrationen sind groß. Ich habe als selbständiger Unternehmer geschluckt, dass durch Ausbau der Betriebsverfassung und Kündigungsschutz unternehmerische Flexibilität gelähmt wurde. Ich habe geschluckt, dass steuerlich kein Aufschwung für Innovationen kam (mit Einzelheiten der Behördenwillkür zur Behinderung bei der Schaffung von Arbeitsplätzen in Berlin möchte ich nicht langweilen), und ich habe geschluckt, dass ich für meine drei hochbegabten Kinder in Hannover teures Schulgeld bezahlen muß, weil staatliche Schulen nicht in der Lage sind, mit Begabungspotentialen umzugehen.
Trotzdem, lieber Gerhard, habe ich am 22. September 2002 die SPD gewählt. Weil ich nicht wollte, dass ein Mann wie Stoiber an die Macht kommt. In der CDU stört mich das C. Der Adenauergag von 1949 hat heute keine Wirkung mehr, christlich ist alles andere, aber nicht die CDU. Die FDP schied auch aus, weil sie keine konsequente Linie hat. Die Grünen - mag man mir erlauben - streife ich nur am Rande, das Hannover-Spektakel vom letzten Wochenende spricht deutlich auch hier gegen eine selbstbewusste, zukunftsorientierte Linie. Politik heute: es ist ein von der Hand in den Mund leben, ein Retten von Ämtern und Einfluß. Das aber braucht der Bürger nicht. Er will klare Verhältnisse.
Was mich - um nun endlich auf den Punkt zukommen - zu meinem Austritt bewogen hat, sind folgende Fakten. Die Steuerpolitik der Bundesregierung ist falsch und unternehmerfeindlich. Die Arbeitsmarktpolitik braucht keine Hartzkonzepte, sondern politische Visionen. Gleiches gilt für die Gesundheits- und Sozialpolitik. Die Bildungspolitik (hat man PISA nicht gelesen?) muß grundlegend geändert werden. In der Außenpolitik stellt sich unser Land ein Armutszeugnis aus. Wenn man in der NATO ist, muß man bündnistreu sein und auch solidarisch kämpfen, wenn es darauf ankommt. Wenn unser Grundgesetz (mit Respekt und in allen Ehren) hier Hemmnisse bietet, dann muß man entweder das Bündnis verlassen oder deutlich machen, dass nationale Besonderheiten zu beachten sind, nicht aber leichtfertig uneingeschränkte Solidarität erklären.
Schockiert hat mich die Besetzung der Ministerposten auf Seiten der SPD . Einen Herrn Stolpe als Bau- und Verkehrsminister , da lachen Amt und Bevölkerung. Frau Bulmahn als Bildungsministerin : womit hat sie das verdient, wo sind ihre Verdienste ? Frau Schmidt als Gesundheits- und Sozialministerin: wo sind ihre Visionen ? Von den anderen möchte ich gar nicht erst reden. Michel Friedman fragte heute bei der Buchpräsentation von Sigmar Gabriel in Berlin ("Mehr Politik wagen") ob er auch der Kanzlerformel unterliege, als abgewählter Ministerpräsident (2.2.2003) Bundesminister zu werden, wie Eichel und andere. Das ist bitter, aber wahr.
Damit bin ich bei den Juden. Um ganz ehrlich zu sein, neben den o.g. Fakten hat die Tatsache, dass die Bundesregierung dem Zentralrat der Juden 3.0 Millionen Euro für die Förderung des Judentums in Deutschland zur Verfügung gestellt hat, bei mir das Maß voll gemacht. Warum musste das in Anbetracht leerer Staatskassen sein, dieser Kotau vor dem Zentralrat der Juden? Der zudem nicht müde wird, die Bundesregierung anzuklagen und zu beschimpfen. Die Beziehung der Deutschen zu den Juden ist gewiß eine besondere. Aber der Deutsche Staat sollte heute, im 21. Jahrhundert, mutig genug sein, ein Selbstbewusstsein an den Tag zu legen, zu sagen, die Vergangenheit war grausam, aber wir leben im Jetzt und Heute, in einer neuen Dimension mit anderen Voraussetzungen. Vergessen wollen wir nicht, aber auf der ständigen Anklagebank wollen wir auch nicht mehr sitzen. Es ist Geschichte. Die Zeit ist aus. Die unbedingte Hinwendung zum Staat Israel ist ebenso falsch. Wo Kinder und Unschuldige - aus welchem Grund auch immer - gemordet werden, hat die Solidarität Deutschlands nichts zu suchen, auch Waffenlieferungen aller Art verbieten sich deshalb. Der Staat Israel ist völkerrechtswidrig, auch wenn man ihn um des lieben Friedens willen akzeptiert hat. Die Juden mit rund 100.000 Gläubigen in unserem Land sind eine Minderheit, die ihren Frieden und ihre religiöse Ruhe haben sollen, mehr aber nicht. Im übrigen: mit welchem Recht bevorzugt man finanziell die Juden und nicht die Roma und Sinti, die Zeugen Jehovas und alle anderen Religionsgruppen, die unter der NS-Herrschaft ebenso gelitten haben. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Juden die bessere Lobby haben. Gerade von einem sozialdemokratischen Bundeskanzler hätte ich hier mehr Mut, Zivilcourage und Sensibilität erwartet. Doch wenn man auf der obenerwähnten Buchpräsentation des Herrn Sigmar Gabriel erfährt, dass er erstens Herrn Friedman duzt und sich coram publico von diesem permanent berühren lässt, dann fällt einem wirklich nichts mehr ein.
Summa summarum: ein langjähriges Mitglied scheidet aus, vermutlich nur ein Verwaltungsakt. Werben werde ich für die SPD nicht mehr. Aber ihr gewogen bleiben und vielleicht wieder eintreten, wenn Charaktere mit Format wie Wehner, Brandt und Schmidt das Sagen haben.
Vermutlich werde ich auf diesen Brief keine Antwort bekommen, so wie ich in den Ortsvereinen und Arbeitsgemeinschaften der SPD mit Arbeitsangeboten ohne Resonanz blieb. Da muß man sich wirklich fragen, wie ernst diese Partei ihre Mitglieder und ihre Ideen nimmt oder: wie selbstgefällig sie sich zeigt.
Mit freundlichen Grüßen, dem Parteibuch zurück (Rarität) und dem Angedenken an Herbert Wehner bin ich
mit besten Grüßen
Dein / Euer Claus Harmsen
http://www.swg-hamburg.de/Archiv/...teiaustritt_von_Claus_Harmsen.pdf
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