Zungenkuss als Vergewaltigung
FOCUS | 14.04.05 | Kann der Kölner Karneval für einen flirtenden Jecken mit der Auslieferung in die Niederlande enden? Er kann, warnt Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio und präsentierte einen denkbaren Fall des neuen Auslieferungsrechts, über das seit gestern in Karlsruhe verhandelt wird.
Von Hartmut Kistenfeger
„Der kölsche Jung flirtet mit einer schönen jungen Frau, küsst sie sogar. Das Flirten fand sie gut, den Kuss nicht,“ erzählt Di Fabio unter Gelächter. „Es war ein Zungenkuss, ich wage es kaum, es zu beschreiben.“ Das dicke Ende: In den Niederlanden gelte der aufgedrängte Zungenkuss als vollendete Vergewaltigung, mit dem neuen europäischen Haftbefehl komme der Kölner zur Bestrafung ins Nachbarland. Nach dem neuen Recht wird bei vielen Delikten wie der Vergewaltigung nicht mehr überprüft, ob der Vorwurf auch in Deutschland strafbar wäre.
Verteidigerhonorar als Geldwäsche
Oder der Anwalt, der einen Italiener verteidigt und „ordentlich Geld bekommt“, wie Verfassungsrichter Rudolf Mellinghoff anführt. Das dicke Ende: Der Anwalt wird von Italien aus wegen Geldwäsche für die Mafia belangt. Der große Unterschied: In Deutschland reicht Leichtfertigkeit für den Vorwurf der Geldwäsche nicht aus, im Ausland schon. Auch dies ist ein Fall, in dem der Deutsche nicht einmal ins Ausland reisen muss, um von einem anderen EU-Land zur Rechenschaft gezogen zu werden.
„Monsterfälle“ nenne man solche Konstellationen, bremste der Vorsitzende des Zweiten Senats in Karlsruhe, Winfried Hassemer, seine kritischen Kollegen. Die Bundesregierung verteidigte sich, dass sich kaum ein niederländisches Gericht finden werde, das den Kölner Jecken in den Kerker schicken würde.
Säumiger Unterhaltszahler nach Litauen ausgeliefert
19 Deutsche hat die Bundesrepublik ausgeliefert, seit der europäische Haftbefehl mit dem 23. August 2004 eingeführt wurde. Betrug, Vergewaltigung, schwerer sexueller Missbrauch von Kindern oder räuberische Erpressung sind die Delikte, die den Bürgern vorgeworfen wurden. Ein Deutscher wanderte in litauische Haft, weil er sich drei Jahre lang um die Unterhaltszahlungen für vier Kinder gedrückt hatte.
Das neue Recht fußt auf einem EU-Rahmenbeschluss, der die Auslieferung von Verdächtigen in ganz Europa beschleunigen sollte. Nach Zahlen der EU-Kommission gelang das auch. Die durchschnittliche Dauer der Auslieferungshaft sank von neun auf einen Monat, was auch den Betroffenen zu Gute komme, wirbt die Bundesregierung.
Deprimierende Antworten
Ist der Preis dafür aber nicht zu hoch, wenn die eigenen Bürger vorschnell oder gar zu Unrecht in einem fremden Land in Haft kommen könnten? Warum hat der Bundestag nicht Sicherungen eingebaut wie Österreich, dass seine eigenen Bürger sogar bis 2008 vor der Auslieferung verschont? Die Antwort der anwesenden Parlamentarier fiel deprimierend aus: Den Bundestagsabgeordneten fehlte mal der Durchblick bei den komplizierten Regelungen, mal fühlten sie sich genötigt zuzustimmen. Dann könne sich das Gericht künftig den Parlamentsvorbehalt sparen, um die demokratische Legitimation von Entscheidungen abzusichern, meinte ein Verfahrensbeteiligter ernüchtert nach der Verhandlung.
Drei Tage zur Gesetzesprüfung
Wie es im Bundestag so läuft, berichtete der CDU-Abgeordnete Siegfried Kauder, seit 26 Jahren Anwalt und Strafrechtler. Montags komme er von Baden-Württemberg nach Berlin, finde dort Tagesordnung und Papiere vor, dienstags sitze er in der Arbeitsgruppe der Fraktion, mittwochs im Fachausschuss des Parlaments. „Der europäische Haftbefehl traf mich wie eine Heimsuchung.“ Er habe sich getraut einzuwenden, dass er die „feinen Verästelungen“ dieses Rechts nicht in drei Tagen verstehen könne. Weil sich auch die Berichterstatter der anderen Fraktionen mit „Bauchschmerzen“ plagten, entschieden sie sich für eine Anhörung von Praktikern, Verfassungsrechtler waren „leider“ keine dabei.
Bedrängte Parlamentarier
Als Begleitmusik habe immer der Justiz-Staatssekretär gedrängelt, der Bundesrepublik drohe Bestrafung, weil sie den EU-Beschluss nicht schnell genug vollziehe. Über Spielräume zu Gunsten der Bürger wurde nie gesprochen, nur über die technische Umsetzung. Der Grünen-Parlamentarier Hans-Christian Ströbele, sonst selten mit Demut ausgestattet, gestand vor den Richtern, „wir waren nur Vollzugsorgan“, er habe sich unfrei gefühlt, weil die Bundesregierung zuvor schon zugestimmt habe. „Ein schöner Einblick in die Praxis“, konstatierte Verfassungsrichter Di Fabio zynisch, „es wäre anrüchig, wenn wir so unsere Entscheidungen machen würden“.
ciao vincenzo b.
|