HANDELSBLATT, Samstag, 7. Oktober 2006, 07:00 Uhr Rohstoffe
Gefährlicher Boom
Von Ingo Narat und Udo Rettberg
Der Aufschwung der Wachstumszentren in China und Indien hat einen Run auf Rohstoffe ausgelöst. Das Angebot kann diese Nachfrage nicht mehr decken. Folge: Die Preise steigen. Die steigenden Notierungen bedrohen so Wachstum, Preisstabilität und Börsenkurse zugleich. Darüber hinaus ist die Angebotssituation ist sehr labil.
FRANKFURT. Die Preishausse im Energiesektor und bei Basismetallen läuft nun schon seit 1999. „Sollten die Notierungen hoch bleiben, müsste man mit den klassischen Risiken rechnen, das heißt steigender Inflation, sinkendem Wirtschaftswachstum, steigender Arbeitslosigkeit“, sagt Daniel Yergin, Chairman von Cambridge Energy Research Associates, Washington.
Seit dem Hoch der Rohstoffpreise im Mai geht es jedoch abwärts, fielen die Notierungen für Öl der Marke WTI von 80 auf 60 Dollar je Barrel (159 Liter). Gestern reagierte die Organisation Erdöl exportierender Staaten und kündigte die erste Förderkürzung seit zwei Jahren an. Heftig wie selten prallen jetzt die Prognosen der Analysten aufeinander. „Im besten Fall geht der Ölpreis noch auf 40 Dollar zurück“, sagt Yergin, der in der Ölbranche eine „große Erleichterung über die aktuellen Entwicklungen spürt“. Davon lassen sich Vertreter der so genannten Superzyklus-Theorie nicht beirren. Sie erwarten wie Jim Rogers, der zusammen mit George Soros den Quantum Fund gründete und Ende der neunziger Jahre als einer der Ersten die Rohstoffanlage propagierte, einen lang anhaltenden Aufschwung.
Höchste Aufmerksamkeit genießt das Öl, weil es als unverzichtbarer Schmierstoff jeder wirtschaftlichen Entwicklung gilt. Wie stark die Nachfrage in den vergangenen 15 Jahren zulegte, illustriert Matthew Simmons, einer der angesehensten Kenner der Ölbranche: „In dieser Zeit stieg der weltweite Ölverbrauch um 21 Millionen Barrel pro Tag, weil der Konsum in den USA wuchs und die Nachfrage aus China spürbar ist.“ Das Plus entspricht dem jetzigen gesamten Jahresverbrauch der USA.
Das aufstrebende China mit seinen 1,3 Mrd. Menschen ist für viele Analysten ein bisher unterschätzter Faktor. Nach Angaben von BCA Research verbraucht der Durchschnitts-Amerikaner heute jährlich rund 25 Barrel, der Durchschnitts-Chinese dagegen erst rund zwei Barrel (siehe „Preise sind gestiegen – Verbrauch wird wachsen“). Marktbeobachter erwarten in China eine ähnliche Industrialisierung wie in Japan in den fünfziger und sechziger Jahren oder wie in Südkorea in der Zeit bis Ende der neunziger Jahre. Beide Länder steigerten damals ihren Jahresverbrauch pro Kopf auf über 15 Barrel. „Damit rechne ich auch für China – hier geht es allerdings um 1,3 Milliarden Menschen“, sagt der bekannte Vermögensverwalter Marc Faber. Das müsste die Preise langfristig nach oben treiben.
Die absehbar steigende Nachfrage trifft auf Engpässe beim Angebot. Neue Lagerstätten können nicht ad hoc gefunden, erschlossen werden und in Produktion gehen. Diese Prozesse haben lange Vorlaufzeiten. Da in der Rohstoffbaisse der achtziger und neunziger Jahre nicht investiert wurde, „werden wir frühestens ab 2010 Erleichterung spüren“, sagt Edward Morse, Chefökonom für Energie bei Lehman Brothers, New York. Simmons erkennt in diesem Zusammenhang ein wachsendes Defizit bei Fachleuten: „In den kommenden fünf Jahren wird sich die Hälfte der erfahrenen Mitarbeiter in der Ölbranche aus Altersgründen zurückziehen.“ Die Branche leidet bereits jetzt unter einem Mangel an Experten wie beispielsweise Geologen.
Generell ist die Angebotssituation auch aus anderen Gründen labil. Raffinerien und Pipelines sind alt und anfällig, was der jüngste korrosionsbedingte Ausfall einer wichtigen Pipeline in Alaska belegt. Auch politisch ist die Versorgungslage kritisch. Das Gros der Exporte stammt aus den unsicheren Region am Persischen Golf. In anderen Förderländer wie Nigeria gibt es innenpolitische Konflikte. Venezuelas Staatspräsident Hugo Chavez ist für seine anti-amerikanische Haltung bekannt. „Wenn eines dieser Förderländer weg bricht, müsste der Markt mit einem spontanen Preisschub reagieren“, sagt Morse. Vertreter des Hedge-Fonds Hermitage wagten eine Kalkulation: ein Bürgerkrieg in Nigeria bringt danach den Ölpreis auf 98 Dollar je Barrel, ein Embargo durch Venezuela auf 111 Dollar, ein Fall der Monarchie im wichtigsten Förderland Saudi–Arabien sogar einen Sprung auf 262 Dollar.
Verfechter einer harten Engpass-Theorie verwenden das „Peak-Oil“-Argument. Dahinter verbirgt sich die These des US-Geologen Ron Hubbard, der bereits in den fünfziger Jahren die Wende zu einer unausweichlich sinkenden Ölförderung vorhersagte – weil die Vorräte begrenzt sind. Die Theorie ist umstritten. „Wir glauben nicht daran“, sagt Yergin, der unter anderem auf Substitutionseffekte bei steigenden Ölpreisen setzt.
Bereits spürbar sind derzeit die Anstrengungen zur Erschließung von Ölsandquellen in Kanada oder Tiefsee-Lagerstätten. Zudem wird Benzin verstärkt durch Bio-Treibstoff ersetzt, der aus Agrar-Rohstoffen wie Mais, Zucker oder Pflanzenöl hergestellt wird. Die Preise dieser Stoffe haben bereits zu einem Aufschwung angesetzt – nachdem sie seit Jahrzehnten gefallen waren und sich der allgemeinen Rohstoffhausse seit 1999 entzogen hatten.
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