Plötzlich stehst du vor dem Nichts
In den USA platzen die Träume der Rentner, weil sie ihr Geld börsennotierten Konzernen anvertrauten.
HOUSTON. Die Hälfte der Amerikaner ist an der Börse. Vor zwei Jahrzehnten begannen sie auf breiter Front, das zu erwartende Altersgeld mit dem Kauf von Aktien aufzubessern. Es war der Traum vom schnellen Reichtum. Die Bilanzskandale und der Niedergang der Börse führten zu einem bösen Erwachen. Die Papiergewinne sind verpufft, es reicht nicht einmal mehr für den geruhsamen Lebensabend. Besonders schlimm traf es Menschen, die in die Zukunft des Energieriesen Enron investierten. Zum Beispiel Roger Boyce.
30 Jahre lang arbeitete er für Enron. Vor zwei Jahren nahm er seinen Abschied - und einen Batzen Geld mit in den Ruhestand. Sein Pensionsfonds war auf 900 000 Dollar angewachsen. Für jeden Dollar, den Boyce einzahlte, gab sein Houstoner Arbeitgeber 50 Cents in Enron-Aktien hinzu. Boyce setzte alles auf diese Karte und kaufte ausschließlich Enron-Aktien. "Es sah so aus, als könnte man sein Geld nicht besser anlegen", erinnert er sich bitter.
Der Fall ins Bodenlose
Als das Unternehmen sich zu den gefälschten Bilanzen bekannte und am 2. Dezember Bankrott erklärte, blieben Roger Boyce nicht mal 10 000 Dollar in seiner Pensionskasse. Er verklagte seinen früheren Arbeitgeber - und ging mit seiner Frau Marilyn auf Jobsuche.
Sein Kollege David Judkins ist nur halb so alt, und das wurde ihm zum Verhängnis, als er in sicherere Anlagen flüchten wollte: Die Regeln bei Enron verboten es Mitarbeitern unter 50 Jahren, die hauseigenen Aktienzuwendungen zu verkaufen. Judkins musste zusehen, wie sein Pensionsfonds von 32 000 auf 4000 Dollar schrumpfte.
Die Gesetzgeber im Kongress wollen erreichen, dass Arbeitnehmer künftig nach drei Jahren Betriebszugehörigkeit ihre Pensionsfonds nach Belieben umschichten können. Aber für 11 000 Enron-Mitarbeiter kommen solche Überlegungen zu spät. Ihre Aktien fielen von 85 Dollar ins Bodenlose. Altersgeld von einer Milliarde Dollar löste sich in Nichts auf.
Beim Telekommunikationsgiganten Worldcom wurden langjährige Angestellte mit 4900 Dollar abgefunden, und viele der jungen Senkrechtstarter stehen vor dem Nichts, weil ihr Markt darniederliegt. Immerhin haben die Jüngeren noch Zeit, die Aufholjagd zu gewinnen. Nur ein Drittel von ihnen mit Jahreseinkommen bis 50 000 Dollar klagt über schmerzliche Einbußen. In der Altersgruppe 45 bis 60 Jahre mit mehr als 75 000 Dollar im Jahr sind es doppelt so viele. Denn sie sind auf der Verdienstebene oben angelangt und sorgen gezielt für ihren Lebensabend vor. Sie sehen ihre Felle davonschwimmen.
Das Problem: Allein von der staatlichen "Social Security"-Rente zu leben, verspricht in den USA ein eher karges Dasein. Daher schaffen die betrieblichen Pensionskassen ein zusätzliches Finanzpolster. Lediglich im öffentlichen Dienst ersetzt die staatlich garantierte Pension die Rente.
Bevor die Amerikaner zu einer Nation von Anlegern wurden, waren die Pensionsfonds der Arbeitgeber der übliche Weg, über die staatliche Rentenkasse hinaus fürs Alter zu sparen. Ihre Zahlungen bis zum Lebensende sind durch ein Bundesgesetz garantiert, und viele der heute über 70-Jährigen beziehen aus ihnen ihr zusätzliches Ruhegeld. Diese Pensionskassen als zusätzliches Finanzpolster sind aus der Mode gekommen. Nur noch 20 Millionen Amerikaner halten ihnen die Treue, 42 Millionen Arbeitnehmer folgten lieber dem Ruf der Wall Street.
Die Versuchung war stark, an den Boom ohne Ende zu glauben, an 20-prozentige Jahresgewinne, an Reichwerden im Schlaf. Doch die Investoren verloren auf dem Papier fast acht Billionen Dollar, seit der Dow Jones im März 2000 seinen Höhepunkt erreichte.
Die Älteren fragen sich nun besorgt, ob sie auf Sand gebaut haben und eher länger arbeiten müssen statt früher in den Ruhestand gehen zu können.
Es trifft durchaus auch Leute, die nicht bei Konzernen arbeiteten und Anteilsscheine erhielten. Mike Lemon ist 59. Er hatte das mit dem Zur-Ruhe-setzen sorgfältig geplant. Der Kleinunternehmer verkaufte sein Haus in New Jersey, seine Ferienwohnung im Norden, erwarb einen sehr viel billigeren Alterssitz in Florida, legte das übrig gebliebene Kapital in Aktien an und wollte von den Gewinnen leben. "Meine ganze Planung ist zum Teufel", schimpft er nun und entwirft wieder Heizungsanlagen für Betriebe. Heute wünscht er sich, er hätte seine Immobilien im Norden behalten und eher noch welche hinzugekauft. Die Hypothekenzinsen sind niedriger denn je, und die Hauspreise steigen und steigen. "Aber manche warnen ja schon vor der nächsten Blase, die platzen wird", tröstet er sich.
Sodbrennen bei den Börsennachrichten
In seiner Siedlung an Floridas Golfküste ist der 59-jährige Mike Lemon bei weitem nicht der Einzige, der die Arbeit wieder aufgenommen hat. Drei Nachbarn, zwei so alt wie er und der Dritte 71, jobben drei bis vier Tage in der Woche, weil sonst das Geld nicht reicht. Ihre Rücklagen schmolzen mit dem Dow Jones Börsenindex. So mancher kriegt inzwischen Sodbrennen statt Hochgefühle, wenn er sich die neuesten Börsennachrichten ansieht.
Seit dem Enron-Skandal sprechen viele Anleger von "den Verbrechern" und meinen damit die Firmenbosse, die ihre Unternehmen in die Pleite führten und sich selbst mit Millionen Dollars bedienten. "Nichts bereitet mir mehr Vergnügen als der Anblick von Firmenbossen in Handschellen", grantelt ein Radfahrer und steigt kräftig in die Pedale.
Es ist wieder ein lausiger Tag, sagt ihm der Blick auf den Dow Jones-Index. (NRZ)
07.08.2002 JÜRGEN KOAR aus NRZ - Neue Ruhr Zeitung
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