Wenn Stuttgart in der Schweiz läge, müsste man nicht gegen Stuttgart 21 demonstrieren - das Volk würde abstimmen. Der abtretende Schweizer Bundesrat Moritz Leuenberger erklärt, warum Bürger genau so gut entscheiden können wie Politiker - und ob das eidgenössische System noch zeitgemäß ist.
SPIEGEL ONLINE: Herr Bundesrat Leuenberger: Sie waren 15 Jahre lang in der Schweizer Regierung, am Mittwoch wird ihr Nachfolger gewählt. Sicher können Sie uns da die Frage beantworten, wer eigentlich die Schweiz regiert...
Leuenberger: Klar. Die Stimmbürger. Sie bilden verfassungsmäßig die höchste Macht, und das trifft auch machtpolitisch zu.
SPIEGEL ONLINE: In Deutschland fragt man sich, wie das funktionieren kann. Sind die Bürger in der Lage über komplizierte Themen zu entscheiden?
Leuenberger: Die direkte Demokratie ist bei uns eine 150 Jahre alte Tradition und hat sich Gott sei Dank erhalten. Wenn wir etwa von den Bürgerprotesten gegen Stuttgart 21 lesen: Diese Frage nach mehr Beteiligung stellt sich bei uns gar nicht, sie ist selbstverständlich. Im Ausland fragen sich manche, wo in der direkten Demokratie die Kontinuität und die Strategie bleibe. Aber gerade in der Verkehrspolitik, für die ich verantwortlich bin, sieht man, dass die Stimmbürger während Jahrzehnten über detailreiche Sachverhalte abstimmten und stets der gleichen Politik treu blieben: der Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene.
SPIEGEL ONLINE: Besteht denn nicht die Gefahr, dass die Bürger emotionale, unsachliche Entscheidungen fällen?
Leuenberger: Anders als im Ausland, funktionieren demokratischen Abstimmungen bei uns nicht als Ventile für eine verfahrene Situation. Zum Beispiel ist die EU-Osterweiterung bei uns, einem Nichtmitgliedsland, in drei Volksabstimmungen indirekt gutgeheißen worden. Ich bin mir nicht sicher, ob das in EU-Ländern auch so ausgegangen wäre.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,718626,00.html -----------
"Wir leben Zürich und Bangkok"