Theorien Wohlfahrtsstaatlicher Politik: Die Internationale Hypothese
verfasst von Tobias Ostheim
1. Einleitung
Alle bislang vorgestellten Theorien der Staatstätigkeit werten die internen politischen oder institutionellen Bedingungen der Nationalstaaten als die wichtigsten Determinanten wohlfahrtstaatlicher Politik. Vertreter der Internationalen Hypothese hingegen sehen die Staatstätigkeit einschließlich der sozialpolitischen Regierungspraxis von externen, inter- oder transnationalen Konstellationen oder Kräften bestimmt oder nachhaltig beeinflusst.
Sie vertreten die These, dass sich die internationalen Rahmenbedingungen nationalen Regierungshandelns insbesondere durch zunehmende internationale Interdependenz, wachsende Weltmarkteinbindung, Liberalisierung des Handels und der Kapitalmärkte und die Europäische Integration erheblich gewandelt hätten.
Sie haben jedoch unterschiedliche Auffassungen darüber, welches die wichtigsten internationalen Einflussgrößen sind und wie diese auf die Staatstätigkeit der Nationalstaaten einwirken. Die Internationale Hypothese ist daher vielgestaltig. Eine ihrer älteren Varianten begreift die sozialstaatlichen Anstrengungen des Staates als Kompensation für die Weltmarkteinbindung der nationalen Volkswirtschaft (Cameron 1978).
Zahlreiche neuere Arbeiten betonen demgegenüber, dass die Globalisierung und das europäische Binnenmarktprojekt die Handlungsmöglichkeiten der Nationalstaaten im Bereich der Sozialpolitik beschränkten (Scharpf 1999). Unter Globalisierung oder "gesellschaftlicher Denationalisierung" (Zürn 1998) kann die "relative Zunahme der Intensität und der Reichweite grenzüberschreitender Austausch- und Produktionsprozesse" vor allem der Wirtschaft, aber auch der Umwelt, Kommunikation und Kultur verstanden werden (Zürn 1998: 125). Häufig wird unter diesen Begriffen jedoch nur die Integration der globalen Märkte verstanden und auf den wachsenden Anteil grenzüberschreitender wirtschaftlicher Interaktionen verwiesen.
Die Europäische Integration umfasst sowohl die Integration des Marktes in Europa als auch das Entstehen einer politischen Entscheidungsebene oberhalb des Nationalstaates. Eine dritte Variante der Internationalen Hypothese verweist auf direkte Rückwirkungen des anwachsenden Bestandes an für die Mitgliedstaaten verbindlichen Regelungen der Europäischen Gemeinschaft (oder anderer inter- oder transnationaler Einrichtungen) auf deren Staatstätigkeit (Scharpf 1999, Leibfried/Pierson 2000).
2. Vertreter der Internationalen Hypothese
David Cameron
Eine frühe Variante der Internationalen Hypothese hat David Cameron (1978) formuliert. Cameron ging von der Beobachtung aus, dass der Staatssektor in den demokratischen Industriestaaten in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erheblich gewachsen ist, jedoch in einem von Land zu Land unterschiedlichem Tempo. Er suchte nach Erklärungen für diese Unterschiede und maß dabei den Staatssektor durch das Verhältnis der Steuer- und sonstigen Einnahmen des Staates zum Bruttoinlandsprodukt, eine der Staatsquote verwandte Messgröße.
Cameron konnte bei seinem Vergleich von 18 Demokratien in den Jahren von 1960 bis 1975 eine Reihe von erklärungskräftigen Variablen identifizieren. Zu diesen gehören politische Variablen wie die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung (vgl. das Modul 4 zur Parteiendifferenztheorie) und politisch-institutionelle Konstellationen wie die Differenz von Föderalismus und Einheitsstaat (vgl. das Modul 5 zur politisch-institutionalistischen Theorie).
Eine besonders wichtige Erklärungsgröße ist ihm zufolge aber die Weltmarkteinbindung der Wirtschaft ("openness of the economy")., gemessen am Anteil der Importe und Exporte am Bruttoinlandsprodukt. Das Maß der Weltmarkteinbindung drückt aus, wie groß die Außenhandelsverflechtung ist und zeigt somit, welcher Anteil der Wirtschaftsbeziehungen grenzüberschreitend stattfindet.
Die Regierungen offener Volkswirtschaften, so Cameron, seien in ihrer Politik - soweit alles übrige gleich bleibe - eingeschränkt, weil das Verhalten der Wirtschaftssubjekte stärker durch den Weltmarkt bestimmt werde und nur noch eingeschränkt durch die Politik beeinflusst werden könne. In der Folge stünde der Regierung eine Reihe wirtschaftspolitischer Instrumente nicht mehr zur Verfügung, die ansonsten zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit, Inflation oder anderer unerwünschter Ergebnisse (outcomes) hätten eingesetzt werden können. Durch einen großen Staatssektor könnten jedoch die negativen Effekte der größeren Verwundbarkeit offener Ökonomien abgeschwächt werden. Ein großer Staatssektor sei daher auch ein Anzeiger von Bestrebungen, negative Folgen der Offenheit für den Einzelnen durch Beschäftigungs- und Sozialpolitik auszugleichen (Cameron 1978: 1249-1251).
Die These der sozialpolitischen Kompensation außenwirtschaftlicher Offenheit ist in der Folge von mehreren Autoren aufgegriffen und zugespitzt worden, beispielsweise von Stephan Leibfried und Elmar Rieger, die den Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsstaates nicht als Bürde in einer globalisierten Wirtschaft werten, sondern umgekehrt als "entscheidende Grundlage und Garantie außenwirtschaftlicher Öffnung" (Leibfried & Rieger 1997: 785, Rieger & Leibfried 2001).
Fritz W. Scharpf
In den neunziger Jahren hat sich eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen, vor allem der Wirtschafts- und der Politikwissenschaft, mit den Auswirkungen veränderter weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen auf die nationalstaatliche Politik beschäftigt. In den meisten Forschungsbeiträgen wird - im Unterschied zu Leibfried und Rieger - eine ausgebaute Sozialpolitik nicht als Voraussetzung der Integration in den Weltmarkt angesehen, sondern als Hindernis für das Wirtschaftswachstum oder Opfer der Globalisierung. Die weltweite Integration der Märkte erzeuge vor allem deshalb Handlungszwänge für nationalstaatliche Wirtschaftspolitik, weil Regierungen im internationalen Standortwettbewerb mit günstigen Standortbedingungen um Investitionen konkurrieren müssten.
Besonders klar hat Fritz W. Scharpf die Folgen dieser Konstellation für die nationalstaatliche Politik vor in den westeuropäischen Staaten herausgearbeitet (Scharpf 1987; 1999a; 1999b). Scharpf sah in der Internationalisierung der Kapitalmärkte eine Hauptursache der eingeschränkten wirtschaftspolitischen Handlungsfreiheit. Solange die Märkte für Finanzanlagen noch nicht integriert waren, solange also Kapital nicht oder nur unter höheren Kosten in anderen Ländern investiert wurde, konnten relativ unabhängig von äußeren Einflüssen Steuern und Abgaben zur Finanzierung staatlicher Aufgaben (unter anderem der Sozialpolitik) erhoben und den Unternehmen regulative Auflagen (wie hohe Sozial- und Umweltstandards) gemacht werden. Auch wenn Unternehmenssteuern, hohe Lohnnebenkosten und regulative Maßnahmen den Unternehmen zusätzliche Kosten auferlegten, beeinträchtige dies nicht die Produktivität, denn die höheren Kosten beträfen im allgemeinen alle konkurrierenden Unternehmen und könnten über die Preise auf die Käufer überwälzt werden.
Mit dem Abbau der Kapitalverkehrskontrollen und Handelsschranken am weitesten gehend in der Europäischen Union biete der internationale Markt Investoren und Steuerzahlern ebenso eine „exit-Option“ wie Konsumenten. Unter diesen Bedingungen müssten beispielsweise produzierte Waren nicht mehr nur mit Produkten konkurrieren, die im Nationalstaat unter den gleichen Bedingungen produziert worden sind, sondern auch mit Produkten, die beispielsweise in Regionen mit niedrigeren Löhnen, höherer Produktivität und geringeren regulativen Auflagen hergestellt wurden.
In der Folge, so Scharpf weiter, würden eine solidarische Lohnpolitik, Mindestlöhne, Steuern und sozialpolitische Maßnahmen, die die Produktionskosten erhöhten, zum Verlust von Arbeitsplätzen in dem Land führen, dessen Regierungspolitik nach anspruchsvoller Sozialpolitik strebt (Scharpf 1999: 195-198). Dies gelte auch für regulative Politik, sofern diese die Kosten eines Produkts erhöhe, ohne sich positiv auf die Qualität der Produktion und des Produkts auszuwirken, beispielsweise Kündigungsschutz oder Arbeitsplatzsicherheit. Bei mobilen Steuergrundlagen drohe darüber hinaus ein internationaler Steuersenkungswettbewerb – etwa bei der Besteuerung von Zinseinkommen, da sich das Kapital bei liberalisierten Finanzmärkten ohne Schwierigkeiten in Länder mit niedrigerer Steuerbelastung transferieren lässt (Scharpf 1999a: 91-95).
Stephan Leibfried & Paul Pierson
Die Annahmen Scharpfs und vieler anderer Autoren lassen sich vereinfacht so zusammenfassen: Im Standortwettbewerb droht Sozialpolitik – aufgrund der für sie nötigen Steuern und Abgaben ebenso wie aufgrund regulativer Maßnahmen – zu einem Hindernis für wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung zu werden. Weil dies im Fall der steuer- wie beitragsfinanzierten Sozialpolitik zugleich die Einnahmen des Wohlfahrtsstaates mindert und die Nachfrage nach Sozialleistungen erhöht, gerät damit der Wohlfahrtsstaat in einen Finanzierungsklemme.
Da die Integration der Märkte in Europa weiter vorangeschritten ist als in der übrigen Welt, kann angenommen werden, dass die "Fähigkeit, die bisherige nationale Politik zu verteidigen, also viel stärker beschränkt [wird], als dies die Anpassungszwänge des globalen Wettbewerbs erfordern würden" (Scharpf 1999a: 46). Damit schließt eine weitere Variante der internationalen Hypothese, welche die Bedeutung der europäischen Integration für die nationalstaatliche Politik betont, unmittelbar an die Globalisierungsthese an.
Vertreter dieser "Europäisierungs–Hypothese" sind Stephan Leibfried und Paul Pierson. Leibfried und Pierson haben drei unterschiedliche Pfade identifiziert, über die die Europäische Gemeinschaft auf die Sozialpolitik in den Mitgliedstaaten der Europäische Gemeinschaft zurückwirkt (Leibfried & Pierson 2000). Diese drei Wege lassen sich mit den Begriffen der negativen Integration, der positiven Integration und indirekten Effekten charakterisieren.
Unter negativer Integration versteht man allgemein den Abbau von Hemmnissen, die dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit, den wichtigsten Zielen des Gemeinsamen Marktes, entgegenstehen. Der negativen Integration wird von vielen Autoren ein wesentlicher Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Politik zugesprochen, weil zahlreiche wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen den Grundprinzipien der "vier Freiheiten" widersprechen.
Auch Leibfried und Pierson zufolge ist in der Sozialpolitik die Souveränität der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft besonders stark durch die negative Integration erodiert. Durch die Europäische Politik sei beispielsweise die Transferierbarkeit von Sozialleistungen über nationalstaatliche Grenzen hinweg durchgesetzt und die Gesundheitspolitik stärker den Regeln freien Wettbewerbs unterworfen worden. Auch seien Maßnahmen durchgesetzt worden, die die Freizügigkeit der Arbeitskräfte flankieren, zum Beispiel der soziale Schutz der Wanderarbeitnehmer.
Den Erkenntnissen Leibfried und Piersons (Leibfried 1997; Leibfried & Pierson 2000) oder Scharpfs (1999a) zufolge ist der Erfolg der negativen Integration insbesondere darauf zurückzuführen, dass die Marktfreiheiten durch die Politik der Kommission und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof (EuGH) gefördert würden. Die Hürde für mitgliedstaatliche Maßnahmen - auch um die Rückwirkungen der Europäischen Integration auf die nationalstaatliche Politik zu begrenzen – im Rat sei dagegen hoch.
Auch Maßnahmen der positiven Integration, also marktkorrigierende Maßnahmen und Normen auf der europäischen Ebene, schafften Leibfried und Pierson zufolge Restriktionen für die mitgliedstaatliche Politik. Beispiele seien die Festlegung gleicher Entlohnung für gleichwertige Erwerbsarbeit von Frauen und Männern und europaweite Arbeitsschutzregeln, die bemerkenswerterweise das hohe Niveau des Arbeitsschutzes der skandinavischen Länder europaweit festschrieben. Dass die Reichweite solcher Reformen insgesamt dennoch vergleichsweise gering ist, führen Leibfried und Pierson darauf zurück, dass die Institutionen der EU es einfacher machen, Reformen zu blockieren als Reformen zu verwirklichen. Überdies sei der Einfluss der sozialdemokratischen Parteien als der stärksten Vertreter einer sozialen Dimension der Gemeinschaft durch die Machtverteilung in Europa bis zur Mitte der neunziger Jahre gering gewesen (Leibfried & Pierson 2000: 270-272).
Ein dritter Pfad der Rückwirkungen auf die mitgliedstaatliche Sozialpolitik liegt nach Leibfried und Pierson schließlich in einer Reihe indirekter Effekte. So entstünde ein Zwang zur Haushaltskonsolidierung und zu sozialpolitischer Zurückhaltung durch die Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrages, so insbesondere die Obergrenzen für Staatsverschuldung und für Neuverschuldung. Insgesamt, so schließen die Autoren, begrenze die Europäische Gemeinschaft die Spielräume der mitgliedstaatlichen Sozialpolitik: "Member governments still 'choose', but they do so from an increasingly restricted menu" (Ebd. 288).
http://www.politikon-osnabrueck.de/ilias/le-html/course18/index.htm
MfG kiiwii
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