Das Drama der Opposition Von Georg Paul Hefty
Der Souverän hat das bundespolitische Zepter für vier Jahre aus der Hand gegeben, nun herrschen die Verhältnisse, die er geschaffen hat. Die Mehrheit in der Volksvertretung hat in einer Koalitionsvereinbarung zumindest zum Teil offengelegt, was sie tun will. Die Minderheit braucht kein Regierungsprogramm, sondern eine Entgegnungsstrategie. Im Grundsatz reicht es, sich das rot-grüne Vorhaben genau anzuschauen und nach jedem Halbsatz ein Zeichen zu machen: Daumen nach oben für Zustimmung, Daumen nach unten für Ablehnung, und zwar mit aller Kraft. Ein waagrechter Daumen könnte Verhandlungsbereitschaft in Einzelheiten ausdrücken und zugleich auf eigene Vorhaben verweisen, deren Durchsetzung man dabei zu erkaufen suchen könnte.
Die ersten Stunden des neuen Bundestages lassen ahnen, daß Münteferings und Göring-Eckhardts Parlamentsregie für die Oppositionsfraktionen lediglich Komparsenrollen vorsieht. Wer stets anführt, daß Mehrheit eben Mehrheit sei, darf sich nicht wundern, wenn Merkel und Gerhardt die Arithmetik gleichfalls als Schwert und nicht nur als Schild einsetzen. Das nun in Frage gestellte Pairing hat nämlich nicht nur die humane Anwendung, Fälle schwerwiegender Erkrankung auszugleichen; ohne Pairing werden die Regierungsabgeordneten, einschließlich der Minister und Parlamentarischen Staatssekretäre, viel weniger reisen können, denn ihre Abwesenheit könnte einzelne Gesetzesvorhaben gefährden. Wenn in den letzten Jahren der Regierung Kohl die Blockadepolitik Lafontaines im Bundesrat legitim war, dann ist es die Aufkündigung des Pairings im Bundestag allemal.
Opposition ist aber mehr als einfallsreiche Handhabung der Geschäftsordnung. Opposition ist sogar mehr als die Kontrolle der Regierung und deren Parlamentsmehrheit. Opposition ist Kampf um den nächsten Wählerauftrag zum Regieren. Da ist es wohl von Vorteil, daß die Führung der Fraktion und die Führung der CDU nun in einer Hand sind und man hinter den strategischen Feinheiten hier wie dort nicht mehr in erster Linie persönliche Rivalitäten des Fraktions- und des Parteivorsitzenden vermuten muß. Und spätestens nach der nächsten Landtagswahl in Bayern wird der CSU-Vorsitzende vor allem Ministerpräsident sein, so daß Merkel auch die Herrin über die CSU in Berlin sein wird - so wie es vor zwei Jahrzehnten Kohl mit Zutun Zimmermanns nach der Wahlniederlage des Kanzlerkandidaten Strauß gewesen ist.
Die Demokratie und der Parlamentarismus sind im Kern einfache arithmetische Systeme. Außer der Fälschung oder Vernichtung von Stimmen gibt es kaum Möglichkeiten zur Manipulation von Mehrheiten. Dennoch hat sich die Linke in Deutschland, sobald sie an der Macht war, immer wieder durch Einfälle hervorgetan, wie die Wählerschaft überraschend, aber dennoch wirksam und völlig verfassungsgemäß verändert werden kann. Im ersten Jahr des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik wurde die Zahl der Wahlberechtigten um drei Altersjahrgänge deutscher Staatsangehöriger erweitert, im ersten Jahr des dritten SPD-Kanzlers wurde versucht, durch Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts neue Wählerschichten zu erschließen, die erwartungsgemäß wenig Neigung haben, für christliche Parteien zu stimmen. Allein die Unterschriftenaktion der Union und ihr Wahlerfolg in Hessen 1999 verhinderten die großzügige Verleihung des Stimmrechts an Einbürgerungsbereite, die ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit dennoch beibehalten wollten. Doch auch so stieg die Zahl der Einbürgerungen seit 1999 um dreißig Prozent im Jahr.
Jetzt läßt aufhorchen, daß Müntefering und Fischer die Mehrheit mit Adjektiven versehen und sie so der rein rechnerischen Qualität entkleiden. Fischer spricht von einer "kulturellen Mehrheit", die Rot-Grün im Lande habe, und Müntefering gibt sich sicher, daß Union und FDP auf lange Zeit nicht mehr die "strukturelle Mehrheit" erreichen würden. Ist es abwegig, bei Fischer und "kulturell" an multikulturell zu denken und bei "strukturell" an eine Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung? In Deutschland leben 7,3 Millionen Ausländer. Mehr als drei Millionen dürften im eigentlich wahlberechtigten Alter sein. Wird ihnen das Wahlrecht verliehen, steigen die Chancen Schröders auf eine Wiederwahl im Jahre 2006 beträchtlich. Das Vorgehen ist im Koalitionsvertrag benannt: "Zur Integrationspolitik gehört auch ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Wir werden die Anstrengungen fortsetzen, mit einer umfassenden Integrationspolitik die Fehler und Versäumnisse der sogenannten ,Gastarbeiter-Ära' zu korrigieren." Und der letzte Satz des Koalitionsvertrages sichert den Grünen die Federführung in der Sache. Da die Integrationsbeauftragte nunmehr im Familienministerium angesiedelt ist, hat Bundesinnenminister Schily nicht einmal das Recht, ihre Gesetzesinitiativen im Ansatz zu stoppen.
Die Union und die FDP stehen vor dem Drama, daß ihr Fleiß, ihre Überzeugungsarbeit und ihre möglicherweise besseren oder sogar populäreren Gegenentwürfe zu den rot-grünen Plänen in der Steuer-, Erziehungs-, Umwelt- oder Außenpolitik letztlich - also bei der Bundestagswahl 2006 - nicht ins Gewicht fallen könnten, weil die Regierungskoalition Schröders und Fischers mit parlamentarisch kaum anfechtbaren legislativen und exekutiven Mitteln die heutige Opposition um deren jahrzehntelange strukturelle Mehrheitsfähigkeit bringen könnte.
Eine solche Aussicht droht die Opposition zu lähmen, auch wenn sie personell noch so gut aufgestellt ist. Im Bundestag allein kann sie dieser Gefahr nicht Herr werden. Der Koordination mit den Unions- und FDP-Mitgliedern im Bundesrat kommt entscheidende Bedeutung zu. Die finanzielle Verführung einzelner Länder durch die Bundesregierung abzuwehren wird somit die wichtigste Aufgabe der Oppositionsführerin Merkel werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.2002, Nr. 244 / Seite 1
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