aus n-tv:
Politikwissenschaftler Udo Vorholt weist angesichts der Schweizer Volksabstimmung im Interview mit n-tv.de auf die Grenzen direkter Demokratie hin. Politische Grundrechte sollten wie in Deutschland unveränderbar in den Verfassungen verankert werden, auch in der Schweiz, fordert der Experte. "Darüber kann und sollte auch nicht mehr abgestimmt werden." Im Fall der Abstimmung über den Minarett-Bau habe die politische Kultur der Schweiz versagt. "Letztlich ging es nicht wirklich um den Bau von Minaretten", sagt Vorholt.
n-tv.de: Die Schweizer haben in einer Volksabstimmung den Neubau von Minaretten in der Verfassung verboten. Ist das der legitime Wille des Volkes oder Ausdruck von Vorurteilen, die es zu bekämpfen gilt?
Vorholt: Es hat eine Mehrheit von über 57 Prozent der Bürger zugestimmt, und es ist auch die notwendige Wahlbeteiligung von über 50 Prozent eingehalten worden, so dass dies ein legitimes Mittel der direkten Demokratie der Schweiz ist.
Worüber haben die Schweizer denn eigentlich abgestimmt?
Letztlich ging es nicht wirklich um den Bau von Minaretten, sondern die Abstimmung wurde zur Mobilisierung politischer Ängste genutzt. In der ganzen Schweiz gibt es derzeit vier Minarette, und diese Initiative ist entstanden, weil zwei zusätzliche Minarette gebaut werden sollten. Es geht also um insgesamt sechs Minarette – dafür muss man nun wirklich nicht die Verfassung ändern.
"Politische Ängste mobilisiert": Die Kampagne für ein Minarett-Verbot des Schweizers Walter Wobmann war erfolgreich.
Nun gilt die Schweiz stets als Vorbild, wenn in Deutschland über Volksabstimmungen diskutiert wird. Ist das der Sündenfall für die direkte Demokratie?
Es wird insbesondere auch von Gegnern direkter Demokratie immer wieder angeführt, dass auch über Todesstrafe oder, wie in diesem Fall, über Minarett-Bau bei Volksabstimmungen entschieden werden kann. Wenn man für direkte Demokratie ist, muss man auch über solche Fragen abstimmen lassen. Man kann nicht nur politische korrekte Themen entscheiden lassen. Aber in diesem Fall hat die politische Kultur der Schweiz versagt: Die Gegner des Minarett-Bau-Verbots haben nicht an der Abstimmung teilgenommen, aus welchen Gründen auch immer. Umfragen im Vorfeld der Abstimmung haben schließlich gezeigt, dass eine große Mehrheit der Schweizer gegen ein Minarett-Verbot ist. Aber es ist immer einfacher, gegen etwas zu mobilisieren, gerade wenn populistisch an Ängste im Volk appelliert wird.
Genau diese populistische Instrumentalisierung sollte durch Informationen und Diskussionen im Vorfeld von Volksabstimmungen in der Schweiz verhindert werden. Die meisten Parteien, Kirchen, Verbände, Gewerkschaften, Künstler und Medien haben sich gegen ein Minarett-Verbot ausgesprochen. Trotzdem ist es zu dem überraschenden "Ja" gekommen. Warum?
Ich glaube, dass sich vor dem Hintergrund der schlechteren wirtschaftlichen Lage in der Schweiz, die durch Arbeitslosigkeit und einen Rückgang des Wachstums gekennzeichnet ist, eine diffuse Angst vor dem Islam durchgesetzt hat. Dabei wurden verschiedene Dinge miteinander vermischt, wie sogenannte "Ehrenmorde", Genitalverstümmelung oder Zwangsheirat, die mit dem Islam gleichgesetzt wurden. Doch in allen Kirchen, ob Juden, Christen oder Islam, gibt es unterschiedliche Interpretationen der Religion, von fundamentalistisch bis liberal. Und den Befürwortern des Referendums scheint es gelungen zu sein, die fundamentalistische Sichtweise mit dem Islam gleichzusetzen und als Feindbild wirksam zu etablieren. Dabei gibt es in der Schweiz nur einen Anteil von nicht einmal fünf Prozent Muslime an der Gesamtbevölkerung, die zudem relativ gut integriert sind.
Auch deutsche Gegner von direkter Demokratie werden die Schweizer Minarett-Entscheidung künftig als entscheidendes Argument gegen die Einführung von Volksabstimmungen anführen. Mit Recht?
Die Frage ist, aus welchen Gründen man für direkte Demokratie ist. Es gibt die partizipationstheoretische Begründung – mehr Menschen sollen an den politischen Entscheidungen beteiligt sein, der Grad der politischen Mitbestimmung soll größer sein. Es gibt aber auch eine demokratietheoretische Begründung von direkter Demokratie. Hier muss man kritisch hinterfragen, ob eine Entscheidung demokratischer ist, wenn sie von 55 Prozent der Bevölkerung gegen 45 Prozent getroffen wird. Ich glaube, das kann man nicht mit Ja beantworten. Direkte Demokratie ist dann sinnvoll, wenn die Bevölkerung im Vorfeld in eine sehr breite Debatte einbezogen wird, wenn also eine Meinungsbildung stattfindet. Dazu müssen aber auch von politischer Bildung über die Schule bis hin zu den Medien entsprechende Vorarbeiten erbracht werden. Direkte Demokratie ohne diese Vorarbeiten ist meiner Meinung nach vergeblich.
Lässt sich Religionsfreiheit zur Abstimmung stellen?
Nein. In einem politischen System muss es bestimmte grundsätzliche Vorgaben geben, die entsprechend in den Verfassungen oder dem Grundgesetz festgeschrieben werden. Darüber kann und sollte auch nicht mehr abgestimmt werden. In Deutschland etwa dürfen die wesentlichen Grund- und Menschenrechte von Artikel 1 bis 20 des Grundgesetzes nicht einfach geändert werden. Politische Grundrechte, Menschenrechte und deutsche Staatsziele wie Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus und Sozialstaat sind von Veränderungen ausgenommen. Und das ist auch gut so. Darüber darf es keine Volksabstimmungen gegen, das sind die Grenzen direkter Demokratie. Es wäre gut, wenn es auch in anderen Verfassungen – etwa in der Schweiz - solche Grundrechte verankert werden, über die nicht mehr abgestimmt werden darf.
Können Volksabstimmungen einem demokratischen Rechtsstaat gefährlich werden?
Prof. Udo Vorholt arbeitet an der Technischen Universität Dortmund. Der Politikwissenschaftler befasst sich vor allem mit Parteienforschung, Politischer Theorie und Politischer Bildung. Wie wir am Beispiel der Schweiz sehen, kann es für das Ansehen eines Staates gefährlich werden. Islamische Länder diskutieren etwa schon einen Wirtschaftsboykott gegen das Land und Auswirkungen auf die Stellung der Schweiz im internationalen System sind absehbar.
Was lässt sich aus der Abstimmung für die deutsche Diskussion um direkte Demokratie lernen?
Ich plädiere dafür, direkte Demokratie als Ergänzung des politischen, repräsentativen Systems zu sehen. Bestimmte Fragen – für mich zählt auch die Europäische Union dazu – lassen sich dabei in einem sehr breiten Diskurs mit den Bürgern des Landes diskutieren und entscheiden.
Das heißt, bestimmte Fragen sind dem Volk zuzutrauen, andere aber nicht?
Nein, das Volk ist nicht dumm, es muss nur den gleichen Informationsstand haben, wie diejenigen, die die politischen Entscheidungen in unserem System umsetzen. Natürlich ist das Volk reif für jede politische Diskussion, wenn es entsprechende vorbereitende Informationen gegeben hat. Sie können etwa nicht eine Entscheidung über Gentechnologie durchführen lassen, wenn nicht entsprechende Vorkenntnisse durch das politische System geschaffen wurden. ----------- Wer gar nichts macht, macht gar keine Fehler (schwarz-gelbe Sesselpupser-Philosophie)
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