Sinkende Preise
Trendwende am Ölmarkt noch 2006
Die Weltwirtschaft kann in diesem und im kommenden Jahr auf sinkende Ölpreise hoffen, falls Krisen wie der Streit über das iranische Atomprogramm nicht eskalieren. Das ist das Resultat einer Handelsblatt-Umfrage bei führenden Investmentbanken und Rohstoffhäusern.
FRANKFURT/DÜSSELDORF. Im Jahresdurchschnitt 2006 rechnen die 20 befragten Rohstoff-Fachleute jetzt mit einem Preisrückgang der weltweit bedeutendsten Rohölsorte West Texas Intermediate (WTI) von zurzeit fast 72 auf 64 Dollar pro Barrel (159 Liter). Für das kommende Jahr erwarten die Experten, dass der Preis auf 59 Dollar sinkt. Damit gehen die Rohstoff-Fachleute von einem stärkeren Preisrückgang aus, als die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Frühjahrsgutachten vorausgesagt haben.
Ohne die derzeitigen geopolitischen Spannungen mit Iran und die Gefahr von Lieferunterbrechungen in Nigeria und Venezuela würde ein Barrel Öl nach Meinung der Experten zurzeit gut zehn Dollar weniger kosten. „Die weltweite Rohölproduktion liegt derzeit deutlich über dem Verbrauch“, sagte der Chefstratege der Deutschen Bank, Klaus Martini, dem Handelsblatt. Für niedrigere Ölpreise spricht aus Sicht des Chefvolkswirts Europa der WestLB, Holger Sandte, auch die Einschätzung, dass sich die Weltkonjunktur im nächsten Jahr abschwächen wird, was gleichzeitig eine geringere Ölnachfrage bedeuten würde. Die WestLB sagt voraus, dass die Weltwirtschaft in diesem Jahr um 4,5 Prozent wachsen wird, 2007 aber nur noch um vier Prozent.
Von entscheidender Bedeutung für den künftigen Ölpreis ist aus Sandtes Sicht die Frage, wie schnell die Förderländer auf den hohen Ölpreis reagieren. Viele Länder wie Brasilien oder Angola bemühten sich derzeit, neue Ölquellen zu erschließen. „Als in den 80er-Jahren neue Felder entdeckt wurden, sackte der Preis in kurzer Zeit ab“, sagt Sandte. Derart drastische Preisrückgänge seien aber nicht mehr zu erwarten, weil das Öl aus immer tieferen Erdregionen gefördert werden müsse. Sinkt der Ölpreis tatsächlich, würde das an den Wachstumsprognosen jedoch kaum etwas ändern – die meisten Ökonomen haben nachgebende Notierungen an den Rohstoffmärkten bereits in ihre Voraussagen eingearbeitet. Sandte weist außerdem darauf hin, dass der Einfluss des Ölpreises auf die Konjunktur insgesamt schwächer geworden ist: Der teure Rohstoff belaste zwar die Verbraucher und damit den Einzelhandel. Er führe aber nicht mehr zu drastisch höheren Lohnabschlüssen wie noch in den 70er-Jahren. Exportnationen wie Deutschland nütze der hohe Ölpreis sogar, meint der WestLB-Volkswirt. Vielen deutschen Unternehmen gelinge es inzwischen, steigende Energieausgaben über verstärkte Ausfuhren in die Ölförderländer mehr als auszugleichen.
Fachleute schließen aber auch nicht aus, dass wachsende politische Risiken und verheerende Wirbelstürme den Ölpreis weiter nach oben treiben. Deutsche-Bank-Chefstratege Martini etwa hält es für möglich, dass der Preis bei ungünstigen geopolitischen und witterungsbedingten Entwicklungen sogar über 100 Dollar pro Barrel steigen könnte. Mit ähnlichen Prognosen hatte die Investmentbank Goldman Sachs schon vor Monaten für Aufsehen gesorgt.
In den vergangenen Jahren jedenfalls mussten die Energie-Experten ihre Preisvorhersagen für die Rohstoffmärkte immer wieder den höheren Notierungen anpassen. Um eine solche Korrektur diesmal zu vermeiden, haben viele Investmentbanken und Rohstoffhäuser ihre Prognosen erst in den vergangenen Wochen deutlich angehoben – zuvor hatten sie im Jahresdurchschnitt 2006 noch mit einem Preis von 58 Dollar je Barrel gerechnet, der 2007 auf 55 Dollar sinken sollte.
Quelle: HANDELSBLATT, Montag, 15. Mai 2006, 10:42 Uhr
Euch,
Einsamer Samariter
|