BERLINEskalation im Kiez - Krawalle alarmieren PolizeiVon Anna Reimann Jugendliche gehen auf Polizisten los, arabische und türkische Anwohner behindern Feuerwehr und Sanitäter: Drohen in Berlin Zustände wie in Pariser Vorstädten? Kids sprechen von einer "brenzligen Stimmung" und Polizeibeamte geben zu: Sie haben in manchen Straßen ein "mulmiges Gefühl". Berlin - Die Stimmung im Kreuzberger Wrangelkiez, einem zugigen Altbauviertel mit hohem Ausländeranteil, ist aufgeladen. Ein paar Dutzend Jugendliche, ausnahmslos Kids aus türkischen und arabischen Einwandererfamilien, haben sich vor einem Call-Center versammelt. Einer sagt: "Was wollen die Scheiß-Ostbullen hier, die sind kürzer als wir in der BRD und sagen uns, wir sollen wieder in die Türkei gehen?" Mehmet Yüksel Polizeieinsatz im Wrangelkiez: "Stimmung ist sehr brenzlig" Französische Verhältnisse mitten in Berlin: Am Dienstag eskalierte ein Polizeieinsatz zu einer Massenschlägerei zwischen Ordnungshütern und 100 türkischen Jugendlichen. Entgleitet der Polizei in Deutschland jetzt die Kontrolle über ganze Straßenzüge wie den Flics in Frankreich schon lange die Kontrolle in den Vorstädten? Die Schlägerei geschah einen Tag vor einer Pressekonferenz von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Bundesjustizministerin Brigitte Zypries. Ihre Botschaft aus dem Regierungsviertel: Deutschland gehört zu den sichersten Ländern der Welt. Ein paar Kilometer weiter ist man sich da nicht so sicher. "Die Stimmung ist sehr brenzlig", sagt der 31-jährige Türke Senal, der von den Kids in der Wrangelstraße verehrt wird wie ein Kiezfürst. "Es dauert nicht mehr lange und es ist hier wie in den Pariser Vororten" - was Senal sagt, klingt nicht nur wie eine Drohung. Es ist eine. Zustände wie in der Pariser Banlieu, wo im letzten Jahr nach dem Tod zweier Jugendlicher heftige Unruhen entbrannten - die Kinder maghrebinischer Einwanderer ganze Stadtteile terrorisierten, Busse anzündeten, Angst und Schrecken verbreiteten? Wo die Staatsgewalt zum machtlosen Beobachter verkam? Und wo Innenminister Nicolas Sarkozy schließlich meinte, man müsse die Vororte "durchkärchern", um sie zu säubern? "Anderen einen Hoffnungsschimmer geben" Politiker aller Parteien wiegelten schnell ab, als es vor einem Jahr darum ging, ob französische Zustände auch in deutschen Städten drohten. Diese Gefahr gebe es schon deshalb nicht, weil die Einwandererjugendlichen mitten in deutschen Städten lebten und nicht isoliert am Rand. Die Verhältnisse der muslimischen Einwanderer in Frankreich und Deutschlandseien nicht zu vergleichen, heißt es unisono. Und der Bielefelder Jugendforscher Jürgen Mansel beruhigte in der "taz", in Frankreich existierten zwar "Stadtviertel, in denen Jugendliche keine Chance haben einen Platz im Erwerbssystem" zu finden - hierzulande hingegen lebten auch in Problembezirken Jugendliche, die "anderen einen Hoffnungsschimmer" geben könnten. Nach einem solchen Hoffnungsschimmer muss man in Gegenden wie der Wrangelstraße lange suchen. Und vergleichbare Konfrontationen häufen sich. Der "Tagesspiegel" berichtet von zwei Fällen, in denen Dutzende bis hundert Jugendliche Polizisten bedroht hatten, oder die Feuerwehr am Löschen eines Brandes gehindert wurde. Im Mai haben in der Naunynstraße in Kreuzberg je zwanzig bis dreißig Türken und Araber an zwei Tagen hintereinander Polizisten nach der Festnahme zweier Straftäter mit Messern bedroht. Im Oktober wurden bei einem Wohnungsbrand in Kreuzberg die Feuerwehr von etwa 200 Ausländern dermaßen bedrängt, dass die Polizei gerufen werden musste. Die Polizisten schützten die Feuerwehr vor Übergriffen. Anders hätten die Löscharbeiten nicht fortgeführt werden können. Rettungskräfte kamen nicht durch 60 Jugendliche gingen gestern in Berlin-Tempelhof auf einen Schüler los: Der 15- Jährige wurde verletzt. Er nannte Streitigkeiten zwischen Schülern zweier Schulen als Grund für die Auseinandersetzung. Nach Polizeiangaben wurde er von Jugendlichen arabischer und türkischer Abstammung verprügelt. Als die Polizei eintraf, waren die Schläger schon geflüchtet. Und gestern kam es in der Hauptstadt noch einmal zu einer "Wir gegen die"-Situation, die außer Kontrolle zu geraten drohte: in Berlin-Moabit, nicht weit von den properen Wohnanlagen der Bundestagsabgeordneten entfernt, bei einem Verkehrsunfall. Der Volkszorn richtete sich gegen einen türkischstämmigen Autofahrer, der ein deutsches Kind angefahren hatte. Der Fahrer fühlte sich bedroht und flüchtete zur Polizei. Sanitäter, die sich um das verletzte Kind kümmern wollten, mussten von Polizisten beschützt werden: "Die Rettungskräfte konnten zunächst nicht zu dem Kind durchkommen, weil eine aufgebrachte Menge ausländischer Anwohner sie daran hinderte", erklärte die Polizei SPIEGEL ONLINE. Es gibt "bestimmte Milieus" in Teilen Deutschlands, in denen es für die Polizei "immer schwieriger ist, einzuschreiten", klagt der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in der "taz". Doch dass die Polizei bestimmte Viertel bereits aufgegeben habe, bestreitet ein Polizeisprecher aus Berlin heute gegenüber SPIEGEL ONLINE. Er könne auch nicht bestätigen, dass die Gewalt gegen Beamte gestiegen sei. "Das ist eher eine unglückliche Verkettung von Umständen." Dennoch gebe es Straßen, bei denen die Beamten manchmal ein "mulmiges Gefühl" hätten. Ein mulmiges Gefühl auch deshalb, weil die "Stimmung hier sehr schnell umschlagen kann". Gerade wenn es um ausländische Jugendliche gehe, "müssen wir sehr viel Fingerspitzengefühl beweisen", so der Sprecher. Zwar seien die Menschen in solchen Problemzonen natürlich froh, wenn beispielsweise ein Autoknacker gefasst werde. Doch wenn man den Täter dann bei der Festnahme "etwas grober anfässt, richtet sich die Wut schnell gegen uns." Der Wrangelkiez in Berlin gilt nicht erst seit Dienstag als Problemgebiet. Schon in den achziger Jahren verwandelten militante Linksradikale die Gegend immer wieder in "rechtsfreie Räume" und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die Jugendgangs scheinen diese Ideen inzwischen übernommen zu haben. Gewalt und Hoffnungslosigkeit in Kreuzberg, Kinderarmut in Berlin-Hellersdorf: Dass ganze Generationen in parallelen Welten aufwachsen, ohne eine berufliche oder gesellschaftliche Perspektive, scheint Politiker nicht weiter zu kümmern. Gerade flatterte dem Hellersdofer Kinder und Jugendhilfswerk "Arche" eine Mittelkürzung ins Haus. 18. 500 Euro sollen der "Arche" im Jahr 2007 reichen - für 400 Kinder, die jeden Tag dort essen, lernen und spielen. Das ist nur die Hälfte von dem, was der "Arche" versprochen wurde. Aber den Rest könne man ja durch Spenden bekommen, hieß es. gruß Maxp.
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