Spiegel-Kritik (Link in # 213).
These: Das deutsche Nachrichtenmagazin« ist kein Nachrichtenmagazin.
LESER: Was denn?
AUTOR: Eine Sammlung von Storys und Anekdoten, Witzen, Vermutungen, Briefen, Spekulationen, maliziösen Bemerkungen, Bildchen und Anzeigen. Ich hoffe, ich drücke mich klar aus und vergesse nichts. Gelegentlich ein Leitartikel, eine Karte, eine Statistik. Unter allen Mitteilungsformen kommt am seltensten diejenige vor, nach der das Blatt benannt ist: die schlichte Nachricht.
LESER: Aber das ist ja gerade der Vorteil des SPIEGEL: Er nimmt mir, dem Leser, die synthetische Arbeit ab und ordnet die einzelnen Informationssplitter von vornherein sinnvoll zusammen. Er verarbeitet sie zu einem Ganzen ...
AUTOR: ... einer »Story«, wie es im SPIEGEL-Statut heißt:
Die Form, in der der SPIEGEL seinen Nachrichtengehalt an den Leser heranträgt, ist die Story
Der Sinn der Story ist es, die Nachricht in ein pseudoästhetisches Gebilde zu verwandeln, sie aus dem Kontext der Situation zu entfernen. Eine echte Nachricht hat eine genau angebbare Quelle; nicht umsonst wird sie in keiner Zeitung wiedergegeben, ohne daß diese Quelle, daß Zeit und Ort ihrer Entstehung angegeben würden. Nachrichten sind für Unterhaltungszwecke im allgemeinen ungeeignet, sie sind kein Genuß-, sondern ein Orientierungsmittel. Dagegen stellt die Story ganz andere Bedingungen: Sie muß Anfang und Ende haben, eine Handlung, und vor allem einen Helden. [Aktuell: Selensky hinten und vorn, A.L.] Echte Nachrichten ermangeln leider oft dieser Eigenschaften. Um so schlimmer für die Nachrichten, scheint der SPIEGEL sich zu sagen.
LESER: Aber der Held einer solchen Story kann durchaus ein neuer Lokomotivtyp sein oder – eine Operationsmethode!
AUTOR: Ich zitiere Ihnen noch einmal aus dem SPIEGEL-Statut:
Nichts interessiert den Menschen so sehr wie der Mensch. Darum sollten alte SPIEGEL-Geschichten einen hohen menschlichen Bezug haben. Sie sollten von den Menschen handeln, die etwas bewirken.
Was mit dem »hohen menschlichen Bezug« gemeint ist, weiß ich nicht genau. »Weder besonders schön noch besonders anziehend« als Legende zu einem Porträt Sartres, der bekanntlich schielt? Aber »Time« [US-Vorbild des Spiegel, A.L.] kann uns über den Helden der Story noch Genaueres, nämlich seinen ideologischen Hintergrund, mitteilen:
Die Nachrichten entstehen nicht durch »geschichtliche Kräfte oder Regierungen oder Klassen, sondern durch Individuen
Damit ist der Held gerechtfertigt; die Geschichte besteht aus Geschichtchen. Human Interest, Stories aus Fleisch und Blut: Solche Parolen gründen auf der Scheinwahrheit, daß Geschichte von einzelnen gemacht wird: der primär gesellschaftliche Charakter historischer Erscheinungen wird mit einem Seitenhieb auf den marxistischen Klassenbegriff geleugnet. Die Anekdote bestimmt die Struktur einer solchen Berichterstattung, die Historie wird zum Histörchen. [A.L.: Ich liebe Enzensberger ;-)]
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