Harald Neuber 13.04.2006
Vier Jahre nach dem gescheiterten Putsch gegen den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez ist die Situation angespannt
11-A - dieses Kürzel ist in Venezuela jedem bekannt. 11-A steht für den 11. April 2002. Damals wurde das südamerikanische Land von einem Staatsstreich erschüttert ( Digitale Beweise für häusliche Gewalt (1)). Rechte Militärs setzen Präsident Hugo Chávez fest, lösten das Parlament auf und versuchten, sein soziales Reformprojekt gewaltsam zu beenden. Bei dem Versuch blieb es. Regierungstreue Militärs und die Bewohner der Barrios, der Armenviertel, in denen die linke Regierung über einen breiten Rückhalt verfügt, beendeten den Putsch binnen zwei Tagen. Am 13. April 2002 war Chávez wieder im Amt ( Chávez wieder an der Macht (2)). Vier Jahre später steht das Kürzel 11-A auch für eine politische Zäsur. Denn während sich die "bolivarische Revolution" unter der andauernden Bedrohung seither sichtlich radikalisierte, hat sich die Opposition - zuletzt mit dem Boykott der Parlamentswahlen vor wenigen Monaten ( Erdrutsch- oder Pyrrhussieg? (3)) - komplett von der parlamentarischen Bühne zurückgezogen.
Stattdessen setzen die organisierten Gegner der Regierung Chávez auf die Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt auf der Straße. Zuletzt nahm die Opposition eine Serie von Gewaltverbrechen in Caracas zum Anlass, um gegen die Regierung zu mobilisieren.
In der vergangenen Woche waren außerhalb der Hauptstadt zunächst die Leichen von drei entführten Brüdern und ihres Fahrers gefunden worden. John, Kevin und Jason Faddoul waren von Unbekannten verschleppt worden. Die minderjährigen Söhne eines kanadisch-libanesischen Geschäftsmannes sollten erst gegen die Zahlung von umgerechnet mehreren Millionen Euro freigelassen werden. Unerwartet ermordeten die Kidnapper die 12, 13 und 17 Jahre alten Opfer und ihren 30jährigen Fahrer inmitten der Verhandlungen. Erschossen aufgefunden wurde auch der italienische Unternehmer Filippo Sindoni. Für besonderes Aufsehen sorgte aber der Mord an Jorge Aguirre, einem Pressefotografen. Der Bildjournalist hatte am Mittwoch vergangener Woche über eine Demonstration im Zentrum der Hauptstadt berichtet, als sein Dienstfahrzeug von einem Motorradfahrer in ziviler Kleidung angehalten wurde. Ohne ersichtlichen Grund wurde Aguirre mit drei Schüssen hingerichtet.
Oppositionelle Gruppen nutzen die Morde für ihre eigenen Zwecke, und riefen zur "aktiven Trauer" auf. In Caracas löste die Polizei Mitte vergangener Woche Gruppen von Demonstranten auf, als diese dazu übergingen, Straßen zu blockieren und Autos zu beschädigen. Regierungsvertreter warnten daraufhin vor dem Versuch der Opposition, das Land vor den Präsidentschaftswahlen im Dezember zu destabilisieren.
Ein ähnliches Vorgehen - Demonstrationen und kalkulierte Auseinandersetzungen mit der Polizei - war schließlich schon dem Putschversuch 2002 vorausgegangen. Die Regierung werde nicht in die Falle der gewaltbereiten Gruppen tappen, verkündete der neue Informationsminister William Lara. Innenminister Jesse Chacón rief die politischen Parteien und die Medien dazu auf, die Morde nicht zu politisieren.
Presse, Polizisten und Paramilitärs
Dies hatten vor allem die traditionell regierungskritischen Privatmedien versucht. Über Tage hinweg behandelten die Tageszeitungen El Nacional (4) und El Universal (5) die Gewaltverbrechen mit emotionalen Schlagseiten auf den Titelseiten. Während so der Eindruck erweckt wurde, die allgemeine Sicherheitslage habe sich unter der amtierenden Regierung massiv verschlechtert, konnten keine verlässlichen Statistiken angeführt werden, die eine Zunahme der Kriminalität objektiv belegten.
Eine Eskalation der Gewalt in Venezuela ist wohl aber aus politischen Gründen zu befürchten. Erste Ermittlungsergebnisse im Fall Faddoul lassen auf eine Verstrickung von Mitgliedern der Hauptstadtpolizei Policia Metropolitana (PM) schließen. Die schwer bewaffnete PM war in den vergangenen Jahrzehnten vor allem für ihr brutales Vorgehen gegen die Bevölkerung in den Armenvierteln der Hauptstadt berüchtigt. Im April 2002 hatte sie sich auf die Seite der Putschisten gestellt. Neben ihrer politischen Ausrichtung ist die Hauptstadtpolizei durch Skandale aufgefallen. Nachdem Mitgliedern Verstrickungen in kriminelle Strukturen nachgewiesen wurden, entließ der chavistische Oberbürgermeister von Caracas, Juan Barreto, mehrere Tausend Polizisten aus dem Dienst, zudem ließ er die Namen von über 500 verurteilen kriminellen Mitgliedern der PM veröffentlichen.
Im venezolanischen Onlineportal Aporrea (6) verwies der Autor Aldo Bianchi nun darauf, dass diese entlassenen Polizisten ein zunehmendes Sicherheitsrisiko darstellen. Bianchi schrieb, dass die ehemaligen Sicherheitskräfte "trainiert sind, die Vorgehensweise der Polizei und des Verbrechens kennen und über gute Kontakte verfügen". Doch eine militärische Gefahr droht auch von anderer Seite. Bei einer kurzfristig anberaumten Parlamentsdebatte über die jüngsten Morde warnte Nicolás Maduro, Präsident der Nationalversammlung, vor dem Einsatz kolumbianischer Paramilitärs in Venezuela. Im Nachbarland Kolumbien sind in den vergangenen Monaten schließlich Tausende rechter Paramilitärs demobilisiert worden. Die venezolanische Regierung fürchtet nun, dass sie von oppositionellen Gruppen im eigenen Land angeworben werden könnten, um gegen die Regierung vorzugehen.
Auf der einen Seite gibt es eine Infiltration krimineller Polizisten, es gibt aber auch die Präsenz paramilitärischer Elemente aus Kolumbien auf unseren Straßen. Nicolás Maduro im Parlament
Abwegig ist diese Annahme nicht. In den vergangenen Jahren sind mehrfach Kommandos rechtsextremer kolumbianischer Paramilitärs in Venezuela festgesetzt worden ( USA finanzieren "demokratische Bestrebungen" nach Intervention und Putsch (7)).
Konflikt mit dem US-Botschafter
In ihren Befürchtungen bestätigt sieht sich die Regierung Chávez auch durch das Vorgehen des US-Botschafters in Caracas, William Brownfield. Mitte vergangener Woche war der Diplomat in ein Armenviertel im Südosten der Hauptstadt Caracas gefahren, um Jugendlichen während eines Baseballspiels Sachspenden an eine Jugendmannschaft zu übergeben. An sich war das ein gewöhnlicher Termin, doch ist der US-Botschafter in den Armenvierteln von Caracas nicht wohlgelitten. So war es nicht erstaunlich, dass Zuschauer spontan gegen Brownfield protestierten. Dieser verließ übereilt die Arena, während der Abfahrt wurde das Botschaftsauto mit Eiern und Tomaten beworfen.
In seiner wöchentlichen Fernsehsendung Aló, Presidente (8) (Hallo, Herr Präsident) drohte Hugo Chávez dem Diplomaten daraufhin mit der Ausweisung.
Wenn Sie weiter solche Provokationen organisieren, können Sie ihre Koffer packen, mein Herr, denn dann werde ich Sie hier herauswerfen. Botschafter Brownfield: Ich werde Sie aus Venezuela herauswerfen, wenn Sie das venezolanische Volk weiter provozieren. Sie werden gehen müssen. Hugo Chávez
Chávez verwies darauf, dass die US-Regierung unmittelbar nach dem Zwischenfall gedroht hatte, Schritte gegen die venezolanische Vertretung in Washington zu unternehmen, weil die Regierung in Caracas den Schutz ausländischer Diplomaten nicht hinreichend gewährleiste. Das US-Außenministerium erwähnte dabei jedoch nicht, dass seine Botschaft selbst den Schutz des Botschafters unmöglich macht. Denn seit die venezolanische Regierung Anfang Februar den US-Militärattache John Correa wegen Spionageverdachtes des Landes verwiesen hatte, informiert die US-Botschaft die venezolanischen Behörden nicht mehr über die Außentermine des Botschafters.
In Caracas geht man daher davon aus, dass ein Zwischenfall provoziert werden soll, damit Washington einen Vorwand hat, um die Regierung des südamerikanischen Landes zu sanktionieren. Schon in der vergangenen Woche habe die Gefahr eines "schweren Zwischenfalls" bestanden, so Chávez, da der US-Botschafter mit Leibwächtern in das Armenviertel gefahren war. Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Bodyguards und Demonstranten seien bewusst in Kauf genommen worden.
Die jüngsten Ereignisse haben die Nervosität in Caracas deutlich geschürt. Die führenden Oppositionsparteien halten ihren politischen Boykott nach wie vor aufrecht. Je näher der Termin der Präsidentschaftswahl Anfang Dezember rückt, desto wahrscheinlicher wird eine Enthaltung auch bei diesem Wahlgang. Eine gefährliche Strategie. Denn mit der Aufkündigung des politischen Dialogs bleibt nur noch der Weg der direkten Konfrontation mit dem Staat. Und die vergangenen Tage haben gezeigt, dass daran ein deutliches Interesse besteht. Links
(1) http://www.telepolis.de/r4/artikel/13/13205/1.html (2) http://www.telepolis.de/r4/artikel/12/12313/1.html (3) http://www.telepolis.de/r4/artikel/21/21503/1.html (4) http://el-nacional.terra.com.ve/ (5) http://www.eluniversal.com/ (6) http://aporrea.org (7) http://www.telepolis.de/r4/artikel/18/18732/1.html (8) http://www.alopresidente.gob.ve/
Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/22/22468/1.html
Viele Grüße und eine angeregte Diskussion Der Bernd
|