Menschliche Zeitbomben
Von Stefan Dietrich
13. März 2009 Die Bilder gleichen einander auf fatale Weise. Wie zuvor in Emsdetten und Erfurt sehen wir in Winnenden weinende Schüler, die sich in den Armen liegen. In den Gesichtern der Erwachsenen steht Fassungslosigkeit und tiefe Trauer geschrieben. Polizeibeamte zeichnen minutiös die Blutspur nach, die Tim K. in Winnenden und Wendlingen hinterlassen hat, ringen aber nach Worten, wenn sie das Unerklärliche erklären sollen. Die ersten, die ihre Sprache wiederfinden, sind die Politiker, die in angemessener Form ihr Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer ausdrücken und den Beamten ihre Anerkennung aussprechen, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens Schlimmeres vereitelt haben.
In Winnenden war dieses Lob in besonderer Weise angebracht. Nicht nur die Polizei zeigte sich auf diesen schrecklichsten aller denkbaren Vorfälle an einer Schule gut vorbereitet, sondern auch die Lehrerschaft. Über die Lautsprecheranlage der Schule wurde eine verschlüsselte Warnung verbreitet, die die Lehrer verstanden. In kürzester Zeit waren Polizeikräfte an Ort und Stelle, die den Amokläufer vertrieben und jedenfalls daran hinderten, seine mörderischen Absichten in aller Ruhe weiterzuverfolgen. Die sofort eingeleitete Sorge um die Betreuung der Angehörigen vermittelte den Eindruck guter Vorbereitung auf einen Ernstfall, der für alle Beteiligten das Albtraumszenario schlechthin darstellt.
Woran erkennt man einen Amokläufer?
Auch die Reaktionen auf Schulmassaker beginnen sich zu gleichen. Schon am Tag danach herrschte kein Mangel an Vorschlägen, wie solchen Ereignissen vorzubeugen sei. Die Gewerkschaft der Polizei fordert technische Zugangskontrollen an Schulen, der Lehrerverband eine Einschränkung des Zugangs zu Waffen, Psychologen dringen auf mehr Stellen für Schulpsychologen. Der Baden-Württembergische Innenminister Rech hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Waffenrecht nach „Erfurt“ schon „extrem verschärft“ worden sei und noch strengere Regeln „jedenfalls diese Tat nicht verhindert hätten“. Erst recht hätte eine Chipkarten-Kontrolle am Schuleingang einen schwer bewaffneten, zu allem entschlossenen Täter nicht aufhalten können.
Ernster zu nehmen ist der Vorwurf, dass es nicht nur an Schulpsychologen fehle, sondern auch an speziell auf das Erkennen menschlicher Zeitbomben trainierten Fachkräften. Ein Schulpsychologe, heißt es, komme auf zwölf- bis fünfzehntausend Schüler. Und dabei dürfte Baden-Württemberg nicht einmal die negative Ausnahme sein. Tatsächlich werden die entsprechenden Stellen in den Ländern eher weniger als mehr. Wenn es so ist, dann hat das Land vergessen, den vorbildlichen Programmen zur Gefahrenabwehr im Ernstfall ein wirksames Präventionsprogramm an die Seite zu stellen.
Sämtliche Alarmglocken hätten schrillen müssen
Denn leider - und auch das hat einen traurigen Wiedererkennungswert - bestätigt sich mit jedem Amoklauf an Schulen von neuem, dass es sehr wohl Möglichkeiten gibt, sie beizeiten zu erkennen und sogar zu verhindern. Wie in Erfurt, Emsdetten und an anderen Schauplätzen des Schreckens, so hieß es auch in Winnenden zunächst, der Täter sei ein „völlig harmlos erscheinender, freundlicher junger Mann“ gewesen.
Nun kommt heraus, dass Tim K. bei Gleichaltrigen als Waffennarr bekannt war, nicht nur Tischtennis spielte, sondern sich auch vor aller Augen im Gebrauch von Pistolen übte, im Verborgenen am Computer seine Mordlust auslebte und sich Mitschülern gegenüber, die ihn ständig mobbten, zunehmend zurückzog. Das ist genau die Art von „Unauffälligkeit“, die „sämtliche Alarmglocken schrillen“ lassen müsste, sagt der Bremer Hirnforscher Roth. In Winnenden aber gab es kein Alarmsystem - nicht in der Schule, nicht im Elternhaus des Täters.
Eine höchst brisante Mischung
Amokläufe von Jugendlichen sind keine Kurzschlusshandlungen. Ihnen geht, wie der Göttinger Soziologe Sofsky schreibt, eine innere Verwandlung voraus. Bevor der „Sprengsatz“ aufgestauter Wut explodiert, bereiten sich die Täter wochen-, oft monatelang auf ihren Rachefeldzug vor. Sie kapseln sich ab, spielen ihre Tat in Gedanken durch, planen den Ablauf minutiös. Zeugen solcher Geschehnisse bestätigen, dass die Täter nicht „durchgeknallt“sind, sondern bei der Ausführung ruhig und überlegt zu Werk gehen.
Doch bevor es so weit kommt, senden sie Botschaften aus, mit denen ihrer Umwelt gewissermaßen eine letzte Chance gegeben wird, sie zu stoppen. Auch Tim K. hat das getan. Er soll einen Brief an seine Eltern geschrieben und eine Schülerin in seine verzweifelte Lage eingeweiht haben. Und in der Nacht zum Mittwoch kündigte er seine Tat in einem Chatroom an. (Hat sich mitlerweile als falsch herausgestellt...k.)
Keine der Verhaltensmerkmale Tims - die zunehmende Vereinzelung, die Verliebtheit in Waffen und aggressive Computerspiele, die momentane Verzweiflung oder auch die abgebrochene psychiatrische Behandlung - bot für sich genommen Anlass zu akutem Handeln. Zusammengenommen aber bildeten sie eine höchst brisante Mischung. Doch den ganzen Tim - vor allem die Verwandlung, die er durchmachte - sah niemand. Und in einer zunehmend fremdbetreuten Kinderwelt wird das immer häufiger der Fall sein.
Text: F.A.Z.
http://www.faz.net/s/...E4A9B4A3AB9066E116~ATpl~Ecommon~Scontent.html -----------
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