"Amerika ist mein Schlachtfeld" Der Schriftsteller Gore Vidal über Osama Bin Laden, George W. Bush - und warum er Rudy Giuliani für einen großartigen Schauspieler hält Gore Vidal, 75, ist einer der bedeutendsten Intellektuellen Amerikas. Er hat über 60 Bücher geschrieben, darunter den Bestseller "Myra Breckenridge" und das Drehbuch für den Hollywood-Film "Ben Hur". Zweimal kandidierte er als Politiker für die Demokraten. Die Gores, seine Familie, sind einer der mächtigen Clans des Landes; sein Vater etwa gründete die Zivilluftfahrt der USA. Zu Vidals Verwandten zählen John F. Kennedy, Jimmy Carter und Al Gore. Vidal lebt mit seinem Lebensgefährten Howard Austen seit 40 Jahren in Ravello an der italienischen Amalfi-Küste.
Mister Vidal, fast zwei Jahrhunderte war Amerika geschützt durch die Weiten der Ozeane. Der letzte Angriff auf das Landesinnere fand 1814 statt, als die Engländer das Weiße Haus zerstörten. Was bedeutet der 11. September für die Geschichte der USA?
Dass die wirtschaftliche Depression zufällig in dieselbe Zeit fällt wie das Auftauchen dieses cleveren Guerilla-Feinds, der mit einer nie geahnten Taktik vorgeht, ist nicht gerade ein Glücksmoment der Geschichte. Was mich am meisten überrascht hat, war die totale Überrumpelung unserer Geheimdienste. Ich glaube, dass das Attentat einen Prozess beschleunigen wird, der schon vor langer Zeit begonnen hat: der Verlust der bürgerlichen Freiheitsrechte in den Vereinigten Staaten. Als ich vor einiger Zeit einen Artikel zu diesem Thema in "Vanity Fair" veröffentlichte, begann Timothy McVeigh...
der später hingerichtete Attentäter von Oklahoma...
mir aus dem Gefängnis zu schreiben. So furchtbar und unentschuldbar seine Tat gewesen ist, er schrieb mir, dass die Vereinigten Staaten sich seit den 50er Jahren zunehmend in einen Polizeistaat verwandelt hätten - nun würden sich die Dinge noch schneller in diese Richtung entwickeln.
Dachten Sie am Anfang auch, die Anschläge könnte jemand aus dem Umfeld von McVeigh durchgeführt haben?
Nein, McVeigh war ein Patriot und ein Soldat...
Er war ein Attentäter.
Aber er hatte nicht den USA den Krieg erklärt, sondern diesen Elementen, die, um nur ein Beispiel zu nennen, das FBI militärisch unterwandert haben - um es am Ende gegen US-Bürger wie etwa in Waco einzusetzen. Der Anti-Terrorist-Act, den Clinton ein Jahr nach dem Attentat von Oklahoma verabschiedete, schränkt die Freiheit von Einzelnen ein, er erlaubt den Einsatz von Truppen gegen US-Bürger - das ist alles gegen unsere Verfassung und Gewohnheitsrechte und wird trotzdem gemacht. Es ist immer dasselbe mit imperialistischen Regierungen: In Krisenzeiten nutzen sie ihre Chance.
Sie gelten als einer der heftigsten Kritiker der Vereinigten Staaten. Hat sich Ihr Verhältnis zu Amerika in den letzten Tagen verändert?
Meine Beziehung zu den Staaten, zu ihrer Verfassung und ihrer Politik, war schon immer die mit Abstand engste, die ein Autor überhaupt haben kann. Die USA sind mein Thema, mein Leben. Andere Schriftsteller schreiben über ihre Hochzeiten, über Lehrer-Karrieren, über irgendwelche Theorien. In meinem letzten Roman "The Golden Age" habe ich versucht, eines klarzustellen: Das 20. Jahrhundert ist mein Thema, mein, verzeihen Sie den Ausdruck, battlefield, mein Schlachtfeld.
Was war Ihr erster Gedanke nach dem Anschlag?
Als die ersten Reaktionen der amerikanischen Politik einsetzten, dachte ich mir, es läuft alles ab wie in der Physik: Auf Reaktion folgt Gegenreaktion. Und wir werden nach so einem Anschlag wie dem von Bin Laden niemals eine andere Reaktion bekommen als diese schreckliche Sehnsucht nach einem absoluten Polizeistaat.
Was macht Sie so sicher, dass Osama Bin Laden dahintersteckt?
Nun, die Tatsache, dass CIA, FBI und ein großer Teil der Medien sich einig waren, (BITTE JETZT ZWISCHEN DEN ZEILEN LESEN, DK) bedeutet ja normalerweise, dass sie alle fürchterlich daneben liegen müssen. Wie es ja überhaupt ein anhaltendes Mysterium ist, was unsere Dienste überhaupt wissen. In der guten, alten Zeit des Kalten Krieges wussten wenigstens unsere Lieblingsfeinde vom KGB einiges über CIA und FBI, weil bei uns genügend Verräter saßen, die Doppelagenten wurden. Osama jedenfalls hat den großen Teufel USA schon eine ganze Weile bedroht. Er hat sich zwar nicht als Urheber bekannt, wie bei solchen Terroristen üblich. Dafür hat er, ganz im Stil eines Vorstandsvorsitzenden einer internationalen Firma, der Verkaufsabteilung gratuliert. Er selbst sieht sich als großer Krieger, als eine Art Saladin der Neuzeit.
Saladin war im 12. Jahrhundert Sultan von Ägypten, er war Moslem und hat auf seinen Kreuzzügen unter anderem Syrien und Jerusalem erobert. Er gilt als Vorbild für den Sultan in Lessings "Nathan der Weise".
Saladin war gut in Kriegsführung, aber er hat keine Strukturen hinterlassen, keine Organisation, nur Krieg und Verzweiflung.
Zurück zu Ihrer Verschwörungstheorie.
Der Polizeistaat ist der Traum jedes konservativen amerikanischen Politikers und natürlich auch unserer derzeitigen Regierung. Glücklicherweise sind wir reich genug, um die Taliban zu kaufen, so dass sie ihr tragisches, depressives Land verlassen, um nach Pakistan zu fliehen.
Das ist Ihr Ernst?
Zumindest sieht es danach aus, während ich dieses Interview gebe. Ich habe mich gerade - als Gedankenexperiment - mit dem Geist unseres großen Präsidenten John Q. Adams unterhalten und mich gefragt, was er in dieser Situation wohl denken würde.
Und?
Sein Geist hat gewarnt vor diesem imperialistischen, kopflosen Abenteurertum.
Verhalten sich die USA bislang nicht erstaunlich zurückhaltend?
Sie dürfen nicht vergessen: Der Druck, den Amerika zur Zeit auf Länder wie Saudi-Arabien ausübt, muss einem wie Osama und seinen Anhängern wie eine militärische Besetzung vorkommen, eine Besetzung des Landes, aus dem der Geist Mohammeds hervorgegangen ist. Ein deutscher Journalist hat mich dieser Tage daran erinnert, dass ich im vergangenen Jahr in einem Interview vor einem Anschlag der Moslems auf Amerika gewarnt habe.
George W. Bush hat relativ schnell den Ausdruck "Krieg" benutzt. Wie müssen wir uns diesen Art Krieg vorstellen?
Zunächst hat Bush diesen Ausdruck verwendet, weil er die großen Versicherungskonzerne beruhigen wollte - ein Kriegszustand hätte sie von ihren Zahlungspflichten befreit. Aber seine Anwälte haben ihn schnell davon überzeugt, dass Kriege nur zwischen Nationen stattfinden können. So wird es wohl laufen wie immer: Die Versicherungskonzerne werden zuerst zahlen, dann sind wir Steuerzahler dran. Und am Ende heißt es: Sozialismus für die Reichen, Kapitalismus für die Armen.
Müssen wir nicht den Begriff "Krieg" neu definieren?
Wir müssen etwas anderes beachten: Wenn die USA es endlich hinbekommen, andere nicht mehr zu provozieren, wird es zumindest keine Kriege mit amerikanischer Beteiligung mehr geben.
Samuel Huntington, der Autor des Buchs "Kampf der Kulturen", hat einer deutschen Zeitung erzählt: "Der Angriff wurde organisiert und umgesetzt von Barbaren als ein Angriff auf die Zivilisation selbst."
Mister Huntington ist den meisten amerikanischen Intellektuellen kein Begriff. Die teutonischen Stämme...
wir fühlen uns angesprochen...
hatten das Pech, ihn vor uns besser kennenzulernen. Jeder der wie Mister Huntington allen Ernstes denkt, dass die USA auf irgendeine Art eine Zivilisation repräsentieren, lebt, um es höflich auszudrücken, völlig ahnungslos von Geschichte. Ich schlage vor, man stattet Mister Huntington sofort mit Raketen aus und schickt ihn nach Kabul, damit er seine Heiden bombardieren kann.
Europa unterstützt die USA, und Bundeskanzler Schröder hat seine volle Solidarität zugesichert.
Ich glaube Ihrem Kanzler alles.
Und der New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani ist seit seinen Auftritten nach dem 11. September beliebt wie nie zuvor. Sogar einer seiner heftigsten Kritiker, der Schriftsteller Paul Auster, zeigt sich begeistert von ihm.
Giuliani ist ein großartiger Schauspieler in einer dankbaren Rolle.
Ihr alter Lieblingsfeind Norman Mailer hat gerade der "Times" gesagt, er glaube, "dass die Globalisierung hiermit einen Schlag mitten ins Gesicht" bekommen habe. Was halten Sie davon?
Nichts.
Viele New Yorker Schriftsteller wie Susan Sontag haben sich in diesen Tagen zu Wort gemeldet.
Ich habe nicht viel davon gelesen. Wissen Sie, wir haben in unserem Fernseh-Zeitalter mehr gute Schreiber als Leser.
Ihr Kollege Steward O'Nan hat in der "Frankfurter Allgemeinen" über die Motive der Terroristen geschrieben: "Sie hassen uns, weil wir reich und mächtig sind. Diese Art von Terrorismus ist eine Art politischer Neid."
Wer, in Allahs Namen, ist Steward O'Nan?
Mister Vidal, überall heißt es, die Welt sei nicht mehr dieselbe seit dem 11. September. Der "Economist" titelte: "Der Tag, an dem sich die Welt veränderte."
Ich würde eher sagen: Der Journalismus hat sich nicht verändert. Das Gespräch führten Christoph Amend und Norbert Thomma.
|