"Es ist ungeheuerlich, dass in Saudi-Arabien eine Bibel oder ein Kreuz verboten sind!" Dr. Peter Scholl-Latour, 77, Journalist, Schriftsteller, Filmautor und Weltreisender über die veränderte Welt nach dem 11. September 2001 und die religiöse Komponente bei den derzeitigen Konflikten
Prof. Dr. Peter Scholl-Latour im Gespräch mit A. Schosch (Foto: Werner Renz, Stimme der Hoffnung, Darmstadt)
TENDENZEN: Herr Dr. Scholl-Latour, in Ihrem neu erschienen Buch "Afrikanische Totenklage" stellen Sie als einer Art Fazit fest, daß angesichts der augenblicklichen katastrophalen Situation in Afrika, die ehemalige europäische Kolonisation rückblickend als eine "relativ humane Form" der Fremdherrschaft erscheine. Wie meinen Sie das?
Dr.Scholl-Latour: Diese Einschätzung können Sie nur vor dem Hintergrund der derzeitigen katastrophalen Situation nachvollziehen! Und da geben Sie mir sicherlich Recht, wenn ich rückblickend die ehemalige europäische Kolonisation als eine "relativ humane Form" der Fremdherrschaft bezeichne. Damals wurden Infrastrukturen geschaffen, es gab Schulen und Hospitäler. Heute sind die meisten dieser zivilisatorischen Errungenschaften zerstört. Die heutigen, an gnadenloser Profitmaximierung und Rohstoffspekulation orientierten Industrienationen hingegen ignorieren bzw. beschleunigen den unheilvollen Kreislauf aus Zerstörung und Chaos.
TENDENZEN: Als wir vor Jahren das erste Mal miteinander sprachen, zitierten Sie den französischen Schriftsteller und unter de Gaulle zeitweise Kulturminister A. Malraux, der gesagt hat: "Das 21. Jahrhundert wird entweder religiös sein oder überhaupt nicht sein". Ist der Terrorakt am 11. September 2001 hierfür ein Fanal?
Dr.Scholl-Latour: Zweifellos betrachten sich die Terroristen, die - ihrer fanatischen Überzeugung gemäß - "auf dem Weg Allahs streiten", im Zustand des "Heiligen Krieges". Doch auch für orientalische Verhältnisse, wo man seit langem in der Zwangsvorstellung des Komplotts, des "mu'amarat" lebt, ist die Hinwendung zur nihilistisch anmutenden, aber religiös motivierten Gewalt ein relativ originäres zutiefst erschreckendes Phänomen. Um einen historischen Vorläufer von Osama bin Laden zu entdecken, der sich als Rächer des Islam, als Tugendwächter auch der muslimischen Potentaten aufspielt, müssen wir wohl auf das Mittelalter zurückgreifen. Da bietet sich in der Figur des "Alten vom Berge" eine erstaunliche Parallele.
Im zwölften Jahrhundert sammelte dieser "Scheikh el Djebl" - erst in Persien, dann in Syrien - seine Selbstmord-Kandidaten, die "Haschischin", und schickte sie nicht nur zur Ermordung der Kreuzritter aus, mit denen die heutigen Araber die Präsenz Amerikas und Israels im Orient oft vergleichen, sondern auch gegen jene muslimischen Herrscher, die angeblich vom rechten Weg der Religion abgewichen waren. Der damalige Abbassiden-Kalif von Bagdad und dessen Rivale, der Fatimiden-Kalif von Kairo, fielen den Mordanschlägen dieser jungen Fanatiker zum Opfer, denen angeblich durch Haschisch-Genuss die Vision des Paradieses vorgegaukelt wurde. Unter den christlichen Feinden des Islam wurden der fränkische König Konrad von Jerusalem und Prinz Raimund von Antiochia ermordet. Selbst der sieghafte Sultan Saladin entging mit knapper Not dem Anschlag dieses Mörder-Ordens. In den Helden-Liedern der "Assassinen" hieß es damals: "Ein einziger Krieger zu Fuß wird zum Entsetzen des Königs, auch wenn dieser über tausend bewaffnete Reiter verfügt." Bei der Bekämpfung des "fundamentalistischen" Terrorismus fällt es den westlichen Geheimdiensten schwer, sich in die Mentalität dieser "Schuhada" zu versetzten. Vor allem die werbende Kraft des zerstörerischen Opfertodes auf Nachahmer-Täter wird unterschätzt. "Sanguis martyrum semen Christianorum - Das Blut der Märtyrer ist der Samen der Christenheit", hieß es einst im Abendland, als dort noch die innige Religiosität vorhanden war.
TENDENZEN: Und im Westen scheint diese "innige Religiosität" verloren gegangen sein. Auf der Europa-Synode 1999 in Rom berichtete der türkische Bischof Bernardini über die Offenheit, mit der sich kurz zuvor der Imam von Izmir an die christlichen Teilnehmer eines Dialogtreffens gewandt hatte: "Dank eurer demokratischen Gesetze werden wir euch überwältigen, dank eurer religiösen Gesetze werden wir euch beherrschen." (Zitiert nach Gernot Facius, DIE WELT vom 06.10.2001 und Hans-Peter Raddatz: "Von Gott zu Allah", Seite 349, Herbig Verlag, München, 2001). Ist es eine unbedeutende Einzelstimme oder steckt mehr dahinter? Hat uns womöglich unsere Naivität den Blick für das latente islamische Sendungsbewußtsein - mitunter auch unter Einbeziehung der Terrorgewalt - getrübt? Inwiefern tragen wir im Westen dazu bei, daß uns Moslems als "Ungläubige" sehen, "sehen müssen"?
Dr.Scholl-Latour: Nein, so pauschal würde ich es nicht formulieren. Sie dürfen nicht Deutschland mit Amerika gleichsetzen. Ich habe diese Abgeordneten gesehen, die da gesungen haben: ‚God bless America'... Es ist ja noch ein tief religiöses Land. Bei uns weigern sich ja schon die meisten Minister, das Wort "Gott" in den Mund zu nehmen, wenn sie ihren Eid leisten. Dieses Ruhen in einer gewissen Religiosität gibt natürlich Amerika eine Kraft, die die Europäer nicht mehr haben. Wir wären eher in der Lage, mit dem Islam, der ja nun mal unser Nachbar ist, zu diskutieren, wenn wir selber noch religiöse Überzeugungen hätten, nämlich dann könnten wir auf dem gleichen Niveau sprechen. Aber ein Mensch, der auf die Religion verzichtet hat, der ein Atheist ist, ist für einen Moslem ein Tier. Und es ist wohl wahr: Wir sind schwächer als die Muslime, weil wir nicht mehr glauben.
TENDENZEN: Ein ganzes Heer von "Bedenkenträgern" rumpfen ob dieser Ihrer Sätze die Nase und empfehlen Ihnen den Begriff "political correctness" neu buchstabieren zu lernen.
Dr.Scholl-Latour: Na und? Sollen sie doch! Ich sehe auch keinen Grund, warum sich Christen wegen der Kreuzzüge entschuldigen sollen. Unsinn! Die Eroberungen muslimischer Mächte haben im Mittelalter bis an die Loire geführt und später im Osmanischen Reich bis Wien. Es gibt keinen Grund für Christen, Abbitte zu leisten. Ich halte es für eine Ungeheuerlichkeit, dass es in Saudi-Arabien verboten ist, eine Bibel oder ein Kreuz einzuführen; dass ein Priester, der in einem Haus eine Messe für die philippinischen Hausangestellten liest, mit Gefängnis oder gar mit dem Tod bedroht ist. Das sollten wir uns nicht gefallen lassen.
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