Aus der FTD Das Kapital: Zur Soziologie des Aktienmarktes Es gibt drei Möglichkeiten, mit Aktien viel Geld zu verdienen. Die eleganteste und einträglichste: Man erkennt Firmen wie Cisco oder Microsoft von Anfang an. Aber wer kann das schon? Die zweite Möglichkeit ist, bei Standardaktien zuzuschlagen, wenn sie völlig unterbewertet sind. Von Zeit zu Zeit kommt das vor. In Europa sind das durchschnittliche laufende KGV 1982 auf 9, 1987 auf gut 11 und 1990 auf 10 gefallen. Heute notieren europäische Aktien nach den realistischen Schätzungen von Morgan Stanley mit dem 16fachen - der für 2003 erwarteten Gewinne. Auf derselben Basis kommt der amerikanische S&P 500 auf ein 2003er KGV von fast 20. Rentenrenditen hin oder her: Standardaktien sind nicht billig. Bleibt die dritte Möglichkeit: handeln. Nur wie? Im Moment fühlt man sich so, als ob man mit dem Auto zu schnell in die Kurve gefahren ist - auf regenglatter Fahrbahn. Das Auto schert aus, man reißt das Lenkrad herum, es schleudert in die andere Richtung, man steuert wieder gegen. Das Rutschpartie wiederholt sich, aber weil man bremst, werden die Ausschläge kleiner. Ist es schließlich überstanden, steckt einem der Schreck in den Knochen, und man fährt langsamer weiter. Mit der Zeit vergisst man die Sache und fühlt sich wieder obenauf. Das Schlimmste abwarten Wenn es danach ginge, hätten die Anleger wenigstens diese Woche abwarten müssen, um wieder auf Aktien zu setzen. Die US-Auftragseingänge für den September, das Oktober-Verbrauchervertrauen und zuletzt der NAPM haben den Markt zumindest vorübergehend schleudern lassen. Der heutige Arbeitsmarktbericht hat sicher auch das Zeug dazu. Obendrein kamen die vielen fürchterlichen Unternehmensmeldungen für das dritte Quartal, die sich nun dem Ende zuneigen. Vordergründige Logik hätte nahe gelegt, dass die Anleger das Schlimmste erst einmal abwarten, zumal man nicht wusste, wie misslich die Nachrichten würden. Dann hätte man jetzt vorübergehend einsteigen können. Aber die Märkte haben ja schon eine mächtige Rally vorgelegt und sehen kurzfristig eher überkauft aus. Es ist auch nicht so, als ob es nicht schlimmer werden könnte. Krisen schwelen nicht nur in Argentinien und der Türkei, sondern auch in Asien, wo die Kreditqualität heute nicht besser ist als 1997. Es sind jederzeit neue Anschläge möglich. Weitere Firmenpleiten sind so gut wie ausgemacht, die gibt es in Rezessionen immer. Und auf längere Sicht verhindern die strukturellen Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft eine neue nachhaltige Hausse. Selbst bei der letzten großen Rezession, als Sparquote und Kapazitäten in Ordnung waren, hielt die Schwäche des NAPM von Mai 1989 bis September 1993 an. Dass der Markt dieser Logik nicht folgt, hat einen einfachen Grund. Die Anleger flitzen nicht einsam auf einer Landstraße herum, sondern mischen bei einem Rennen mit. Es gibt also eine Gruppendynamik. Wer handeln will, muss sie verstehen. Immerhin treten die Standardindizes seit dem Frühjahr 1998 per saldo auf der Stelle. Die Geldpolitik mag die Börse über die nächsten Monate antreiben. Aber neue unberechenbare Ausschläge werden kommen. Es ist ein weiteres Feld, auf dem die Soziologen ihre Forschungen vergeblich intensivieren könnten. Ölwerte Auch Petrodollar machen nicht glücklich. Jüngstes Beispiel ist Shell , deren Aktie trotz anhaltender Rückkäufe in den letzten zwölf Monaten um 19 Prozent gefallen ist. Was fehlt, sind die Wachstumsperspektiven in der Öl- und Gasförderung. Shell hat zuletzt die eigenen Ziele auf Produktionszuwächse von drei Prozent pro Jahr reduziert. Schon möglich, dass Shell bei weiter fallenden Ölpreisen weniger als etwa BP zu verlieren hat. Die weltweite Konjunkturschwäche und volle Lager drücken den Preis. Andererseits dürfte das Opec-Kartell bald die Förderung senken. Die Furcht vor einer Wiederholung von 1998 sitzt tief. Nicht unwahrscheinlich, dass bald die Opec-Quoten gekürzt und auch eingehalten werden. Zudem könnten Streiks in Venezuela und Brasilien oder Unruhen am Golf den Preis stützen. Für die Weltwirtschaft wären das Tiefschläge. Wegen des ungewöhnlichen Risikoprofils sind Ölaktien als Beimischung fürs Portfolio interessant. Aber dann sollte man sich nicht mit BP oder Shell zufrieden geben, sondern gleich russisches Roulett spielen. Anders als 1998 dürften Russland, Norwegen und Mexiko diesmal nicht die Produktion drosseln. Besonders Russland, das nach den Rubelabwertung die niedrigsten Produktionskosten außerhalb der Opec hat, würde Marktanteile gewinnen. Der russische Ölriese Lukoil hat am Donnerstag recht gute Zahlen vorgelegt. Er notiert mit dem 3,5fachen des Gewinns. Shell und BP kosten das 14fache. Auch nach anderen Kennzahlen ist Lukoil billig - teils zu Recht, denn den Aktionären bleibt nur, was gierige Manager und Steuereintreiber übrig lassen. Zartere Gemüter könnten es mit der norwegischen Statoil probieren. Die ist ebenfalls günstig und hat zuletzt mit guten Ergebnissen gepunktet. Petrorubel und -kronen sind eine Wette wert. © 2001 Financial Times Deutschland
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