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Atomkraft hilft eben doch
Die Bundesregierung sagt, es bringt nichts, Meiler länger laufen zu lassen. Doch das stimmt nicht. In Wahrheit kann die Kernenergie gleich mehrere Probleme auf einmal lösen.
Von MORTEN FREIDEL
Glaubt man der Bundesregierung, ist sie nicht grundsätzlich gegen die Atomkraft. Wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen darüber spricht, klingt er aufgeschlossen, nüchtern, nicht wie ein Ideologe. Die Frage nach der Kernenergie, sagte er kürzlich in einem Video, sei eine, „die ja total virulent ist und auch häufig diskutiert wird“. Punkt für Punkt geht Habeck durch, was in der gegenwärtigen Krise dafür spricht, Meiler am Netz zu lassen, die Arme locker auf den Tisch gelehnt, das Hemd hochgekrempelt. Am Ende sieht Habeck wenig Vorteile. Wir würden ja, lautet die Botschaft. Aber es bringt halt nichts. Wer so argumentiert, hat den Vorteil, dass er über Überzeugungen nicht zu reden braucht. Sachzwänge sind objektiv. Ihnen müssen sich alle beugen, auch Kernkraftbefürworter. Die Frage ist nur, ob es sich wirklich um Zwänge handelt.
Eines der Hauptargumente der Ampelkoalition lautet: Deutschland hat ein Wärmeproblem, kein Stromproblem. Das bekräftigte Habeck erst in dieser Woche. Gegen Gasknappheit „hilft Atomkraft gar nichts“, sagte er in Wien. Dem widerspricht die Regierung selbst. Sie empfahl großen Unternehmen nämlich kürzlich, sich Notstromaggregate zuzulegen. Würde sie das tun, wenn sie Stromausfälle im Winter für ausgeschlossen hielte?
Mark Helfrich, Fachsprecher für Energiepolitik der Unionsfraktion, geht außerdem davon aus, dass viele im kommenden Winter mit Strom heizen werden, zum Beispiel, indem sie Heizlüfter benutzen. Das könnte günstiger sein, als die Heizung aufzudrehen. Erst recht, wenn Gas knapp werden sollte. Schlimmstenfalls könnte es sogar die einzige Möglichkeit sein, die Wohnung warmzuhalten. „Wir sehen ja schon jetzt, dass viele sich einen Heizlüfter im Sommer kaufen“, sagt Helfrich.
Fachleute verstehen unter Streckbetrieb was anderes
Wer mit Strom heizt, verbraucht viel Energie, und das an Tagen, an denen kaum die Sonne durchkommt und der Wind nicht weht, Solarzellen und Windräder also wenig bringen. Im schlimmsten Fall könne es also „doch zu einem Stromproblem kommen“, sagt Anja Weisgerber von der CSU, Obfrau im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Helfrich hält das Argument der Bundesregierung deshalb für eine „gnadenlose Verkürzung“. Und da will sie ausgerechnet auf Atomstrom verzichten, der auch produziert wird, wenn es dunkel und windstill ist, dazu noch klimaschonend?
Ähnlich argumentiert die Regierung, wenn es darum geht, die letzten Reserven aus dem Brennstoff rauszuholen. Das nennt man Streckbetrieb. Die Koalition erklärt ihn so: Im Sommer drosseln die laufenden Atomkraftwerke ihre Leistung, dafür können sie im Winter länger am Netz bleiben. Unterm Strich liefern sie also nicht mehr Energie, nur später. Die Koalition hält das für unsinnig, denn man brauche ja schon jetzt so viel Strom wie möglich, um die Gaskraftwerke zu entlasten und Gas für den Winter zu sparen. Ist der erst mal da, sei es zu spät.
Fachleute verstehen unter Streckbetrieb aber etwas anderes. Es geht darum, den Brennstoff so auszunutzen, dass er über sein geplantes Ablaufdatum hinaus weiter Strom produziert. Dafür werden die Brennelemente neu angeordnet und effizienter genutzt. Sie liefern also mehr Energie als ursprünglich vorgesehen. Der TÜV Süd hat das für das Kraftwerk Isar 2 in Bayern abgeschätzt. Er geht davon aus, dass es bis in den Sommer nächsten Jahres Strom für mehr als 1,5 Millionen Haushalte produzieren könnte. Der Prüfverein geht sogar davon aus, dass es möglich ist, den Block C des Kernkraftwerks Gundremmingen im Land wieder hochzufahren.
Mit den noch vorhandenen Brennelementen könne man einen Reaktorkern zusammenstellen, heißt es in dem Papier, der „sämtliche sicherheitstechnischen Randbedingungen erfüllt“. Der könnte noch einmal fast genauso viel zusätzlichen Strom liefern wie Isar 2. Damit wären fast drei Millionen Haushalte für ein Jahr versorgt. Wie viel zusätzliche Energie die noch laufenden Meiler im Emsland und Neckarwestheim erzeugen könnten, ist unsicher. Fachleute sind sich aber einig, dass auch bei ihnen was rauszuholen ist. Der Aufwand wirkt überschaubar. Man muss keinen neuen Brennstoff besorgen, keinen neuen Reaktor bauen, nur Genehmigungen einholen.
Riskiert man wirklich gleich ein neues Tschernobyl?
Die Bundesregierung sagt allerdings, solche Genehmigungen wären viel zu aufwendig. Man kann die Betriebserlaubnis nicht einfach verlängern, sondern müsste eine neue ausstellen. Das würde aber bedeuten, dass man an die Kraftwerke einen ganz anderen Standard anlegen müsste. Sie müssten dann so sicher sein wie Reaktoren der neuesten Generation. Kühlbecken müssten neu gebaut, Turbinen ausgetauscht werden. Das kostet Millionen, und wenn alles fertig ist, ist die Energiekrise schon vorbei. Dann ist da noch die Sache mit der „großen Sicherheitsüberprüfung“. Sie wird normalerweise alle zehn Jahre durchgeführt. Als sie 2019 wieder anstand, hat man aber darauf verzichtet, weil klar war, dass die Atomkraftwerke bald abgeschaltet würden. Die müsste also nachgeholt werden, und das dauert lange. Hört man Habeck zu, entsteht der Eindruck, dass in diesem Zeitraum alles stillsteht im Kraftwerk. Mehr noch, es klingt, als würde man andernfalls die Sicherheit Deutschlands gefährden. Nach dem Motto: drei Jahre ohne Sicherheitsüberprüfung gingen noch, nach vier Jahren riskiert man ein neues Tschernobyl.
Fachleute halten das für verzerrt. Der Diplom-Physiker Ulrich Waas gehörte bis vor Kurzem der Reaktorsicherheitskommission an und hat die „große Sicherheitsüberprüfung“ mitentwickelt. Er sagt, sie dauere, aber das meiste könne man am Schreibtisch erledigen. Es geht darum, zu prüfen, ob neues Wissen dazugekommen ist, das es erforderlich macht, den Reaktor umzubauen. Darum, Störfälle auszuwerten und das Handbuch anzupassen. Das meiste davon findet statt, während das Kraftwerk weiterläuft. Denn es dreht sich um grundsätzliche Dinge, um die Anlage selbst weniger. Sie wird sowieso jedes Jahr einmal geprüft, und außerdem regelmäßig zwischendurch. Würde man dabei auf ein Sicherheitsproblem stoßen, würde man sie sofort abschalten. Noch dazu mussten europäische Atomkraftwerke nach Fukushima mehrere Tests bestehen. Für die bayerischen kam beispielsweise heraus, dass nicht einmal ein Absturz eines Großflugzeugs auf die Anlagen eine Kernschmelze hervorrufen würde. Wie viel sicherer, fragt Waas, sollten sie denn noch werden?
In Sachen Genehmigung liegt die Ampel sogar falsch. Das zeigt ein Rechtsgutachten der Universität Bochum, das der Wirtschaftsrat der CDU in Auftrag gegeben hat. Die Betriebsgenehmigung erlischt nicht mal dann, wenn die Kraftwerke vom Netz gehen. Sie müssen danach nämlich noch eine Zeit lang weiterlaufen, bevor man sie ganz abschalten kann. Was endet, ist die Erlaubnis, Strom einzuspeisen. Die könnte die Koalition aber wieder erteilen. Dafür muss sie nur das Atomgesetz ändern. Deshalb sehen die Gutachter auch nicht, dass die Kraftwerke plötzlich viel sicherer werden müssen. Dem Standard eines Neubaus müssen nur Neubauten entsprechen.
Aber was ist mit dem Personal, fragt die Bundesregierung. Viele Leute hätten die Konzerne ja schon in den Ruhestand geschickt und die wollten doch wohl kaum von der Badeinsel zurück ans Abklingbecken. Es gibt also angeblich gar nicht mehr genug Leute, die wissen, wie man Atomkraftwerke bedient. Die Folge sei auch hier ein Sicherheitsrisiko. Wer im Atomkraftwerk gearbeitet hat, oder es noch tut, stellt das anders dar. Waas sagt, viele würden zurückkommen, wenn man ihnen nur das Gefühl gäbe, sie würden nicht verteufelt. Andreas Schultz, Teilbereichsleiter in dem schon vom Netz genommenen Atomkraftwerk Brokdorf, sieht es ähnlich. Klar sei es aufwendig, Personal zu gewinnen, sagt er. Schultz kennt aber viele, die bereit wären zurückzukommen. Er glaubt sogar, dass sie längere Schichten fahren würden, wenn es der Sicherheit Deutschlands dient. „Was die Politik als Argumente anführt, sind Scheinargumente. Wenn man es denn möchte, sind alle Probleme zu lösen.“
„Es geht hier auch um eine Frage der europäischen Solidarität“
Nun sagt die Regierung: Energie kriegen wir notfalls aus Europa, wir sind schließlich eine Solidargemeinschaft. Was das angeht, gibt es allerdings schlechte Nachrichten. Vor wenigen Tagen mahnte der EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton, Deutschland solle seine Atomkraftwerke unbedingt länger am Netz lassen. Energiepolitiker fürchten, dass Bretons Worte mit einem Problem in Frankreich zu tun haben. Das Land hinkt mit der Wartung seiner Atomkraftwerke hinterher, was mehrere Gründe hat, unter anderem die Pandemie. Viele Anlagen stehen still. Wenn sie im Winter noch nicht wieder laufen, könnte selbst in Frankreich Strom knapp werden.
Die Ampel sollte also nicht darauf setzen, im Nachbarland notfalls billigen Strom einkaufen zu können. Vielmehr könnte Frankreich welchen aus Deutschland beziehen wollen. Das heißt nicht, dass hier die Lichter ausgehen, wohl aber, dass Strom noch teurer wird. „Sagen wir dann: Das ist uns egal, wir schalten die Kernkraftwerke ab?“, fragt Helfrich von der CDU. „Ich will mir das nicht vorstellen. Es geht hier auch um eine Frage der europäischen Solidarität.“
Die wird umso drängender, sollte Russland auch in Zukunft jede Rohstoffabhängigkeit ausnutzen. Viele Fachleute sind überzeugt, dass Gas als Brückentechnologie für die Energiewende ausfällt. Bleiben noch Kohle und Atomkraft als Energieträger. Einer davon hat wenig mit Klimaschutz zu tun. Setzt man nun auf Atomkraft, müsste man die Laufzeiten für Jahre verlängern, neue Brennstäbe besorgen und Personal ausbilden.
Dann wäre da noch die Frage, was Energie kosten soll. Schon jetzt diskutieren sie in der Ampel, was man gegen die Rohstoffpreise tun kann. Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates der CDU, hat darauf eine einfache Antwort: „Kernkraft ist die günstigste Energie, die es am Markt gibt.“ Sie würde den Preis stabilisieren, im Gegensatz zu Subventionen, die oft kaum helfen.
In der Wirtschaft sind sie besonders irritiert, dass die Regierung lieber alten Überzeugungen treu bleibt statt vorzusorgen. Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, sagt: „Wenn wir eine solche Notlage haben, müssen wir alle Flexibilitäten erhalten, die wir haben. Für mich ist das wie bei einer Versicherungsprämie: Klar, die kostet was, aber im Grunde geht es darum, dass wir auf den absoluten Ernstfall vorbereitet sind.“ Der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn von der CDU findet es „fahrlässig“, wie sie die Option Kernenergie in der Koalition wegwischen. „SPD und Grüne schieben konstruierte Sachzwänge vor, obwohl ihre Ablehnung rein politisch und ideologisch motiviert ist. Wenn im Winter Strom knapp oder richtig teuer wird, dann ist diese Bundesregierung verantwortlich. Und niemand sonst.
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