Zwei Klassen in der BildungseliteUnsichere Arbeitsverhältnisse werden zur Normalität - selbst in der Wissenschaft. Bürokratische Starre treibt viele Akademiker ins AuslandVON LARS KLAASSEN Wer heutzutage noch einen Job hat, kann froh sein - eigentlich. Immer mehr Menschen arbeiten hierzulande in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Das bedeutet für die meisten Betroffenen erhöhten sozialen und psychischen Stress bei schlechteren Arbeitsbedingungen und für weniger Geld. Auch Wissenschaftler bekommen das zunehmend zu spüren. Klaus Dörre, Wirtschaftssoziologe an der Universität Jena, hat die Prekarität von Arbeitsverhältnissen und daraus resultierende Konsequenzen erforscht. Nach einer Untersuchung, die sich vor allem auf Arbeiter und Angestellte konzentrierte, sieht Dörre weiteren, dringenden Forschungsbedarf - nicht zuletzt mit Blick auf die deutsche Wissenschaftslandschaft. Dörre unterschiedet in der Arbeitswelt - an Forschungen des französischen Sozialwissenschaftlers Robert Castel anknüpfend - drei Zonen: die der Integration, der Prekarität und der Entkopplung. Die erste umfasst den Bereich der "geschützten Normarbeit", also etwa der regulär Angestellten. In der Zone der Entkopplung befinden sich Menschen, die von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind. "Dazwischen", so Dörre, "expandiert eine Zone der Prekarität." Dazu zählen Zeit- und Leiharbeit, abhängige Selbstständigkeit, befristete Beschäftigung, Mini- und Gelegenheitsjobs sowie manche Formen von Teilzeitarbeit und Beschäftigungsverhältnisse mit Niedriglöhnen. 1-Euro-Jobs und informelle Schattenarbeit markieren den Übergang zur Zone der Entkopplung. "Die Zone der Prekarität ist - anders als die Langzeitarbeitslosigkeit - im unmittelbaren Erfahrungsbereich des produktiven Zentrums der Gesellschaft angesiedelt", erläutert Dörre. "Mitglieder der Stammbelegschaften haben die Arbeitsrealität der Leiharbeiter, Aushilfskräfte, befristet Beschäftigter oder abhängiger Selbstständiger ständig vor Augen." Das diszipliniert die bislang noch Integrierten, die vor einem Abstieg bangen. Während die einen zu allem bereit sind, um fest angestellt zu bleiben, tun die anderen alles, um ihrer Unsicherheit zu entkommen. Eine Typologie mit neun Kategorien im Rahmen der drei Zonen hat Dörre für "(Des-) Integrationspotenziale von Erwerbsarbeit" entwickelt. "Hinsichtlich der Situation von Wissenschaftlern müsste diese Typologie im Zuge eines neuen Forschungsprojektes variiert werden", sagt Dörre. Dass Prekarität auch in der Forschung um sich greift, steht aber jetzt schon fest. "Junge Wissenschaftler müssen sich heute vor ihren Eltern rechtfertigen, weil sie keine sicheren Jobs haben", konstatiert Dörre. "Wir haben eine Zwei-Klassen-Gesellschaft!" Mit C 4- und C 3-Professuren gibt es nach wie vor eine Zone der Integration in der Wissenschaft. "Aber diese Zone ist nur für eine kleine Minderheit der Nachwuchswissenschaftler erreichbar, denn Vollzeit- und Dauerbeschäftigung werden rapide abgeschmolzen." Die Realität sieht für viele so aus: Halbe und Drittelstellen werden für immer kürzere Laufzeiten vergeben. Mehrmonatige oder einjährige Verträge sind keine Ausnahmen. Anders als in der freien Wirtschaft sieht Dörre den Grund für diese Entwicklung nicht im Druck durch Globalisierung von außen: "Das größte Problem im Wissenschaftsbetrieb ist bürokratische Starre." Wer sich über immer neue Projektarbeit bis zur Rente finanzieren muss, wird vom Hochschulrahmengesetz daran gehindert. Nach zwölf Jahren schiebt das HRG weiteren befristeten Verträgen einen Riegel vor. Selbst Schritte zur Entbürokratisierung, wie die Juniorprofessur, haben in der Realität nur begrenze Effekte. Ohne Habilitation bleiben nach wie vor viele Türen verschlossen. "Unter solchen Bedingungen muss man viel Emphase mitbringen - oder verabschiedet sich irgendwann", sagt Dörre. Kollegen des Professors suchen händeringend nach Doktoranden. Die Nachfrage ist im Keller. "Viele gute Leute gehen auch ins Ausland." Dort seien zudem die Wege in die freie Wirtschaft - und zurück - durchlässiger. Eine deutliche Entschärfung der Situation ist laut Dörre noch nicht absehbar. Umso mehr Bedarf sieht er, die Prekarität in der Wissenschaft bald genauer zu untersuchen. taz vom 18.2.2006, S. 27, 140 Z. (TAZ-Bericht), LARS KLAASSEN
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