MODETRENDS
Qualität statt Wühltischware: Edle Secondhandkleidung, vom Designer aufgepeppt, erobert den Laufsteg.
Die Menschenschlange in der H&M-Filiale am Berliner Kurfürstendamm ist beängstigend lang. Zwölf junge Frauen stehen mit mehreren Schichten bunter Sommerröcke, Blusen und Tops über den Armen vor dem Eingang zu den Umkleidekabinen. „Ich muss mal wieder dringend meinen Kleiderschrank ausmisten, da passt gar nichts mehr rein“, klagt eine etwa Zwanzigjährige der Freundin ihr Leid. „Mir geht's genauso“, bestätigt diese. 28 Kilogramm Textilien trägt jeder Deutsche jährlich im Schnitt nach Hause, ein Drittel davon in Form von Kleidung. Damit ist Deutschland Europameister im Textilverbrauch. Schnell wechselnde Trends treiben die modebewussten Massen in Konsumtempel, Schnäppchen und Sonderangebote verlocken zu manch unbedachtem Spontankauf. Doch es gibt inzwischen einen Gegentrend: Ein neues Bewusstsein für Qualitätsbekleidung erwacht. Das Motto: Weniger ist mehr.
„Ein Großteil meiner Kunden kauft inzwischen bewusst qualitätsorientiert ein“, bestätigt Modedesigner Daniel Rodan. Der Berliner, dessen Atelier mit angeschlossener Werkstatt nur zweihundert Meter von der H&M-Filiale am Ku'damm entfernt liegt, hat sich dem Material Leder verschrieben. „Meine Hosen halten zehn, die Jacken zwanzig Jahre. Diese Bäumchen-wechsle-dich-Hysterie machen heute viele nicht mehr mit.“
Doch der Umkehrprozess von der Quantität zur Qualität ist weit, gute Ware hat bekanntlich ihren Preis. Das bedeutet vor allem für weniger gut betuchte Zeitgenossen die Bereitschaft zum aufgeschobenen Konsum. Wer sich etwa in Sabine Antons Maßatelier „Fasan“ in Berlin ein Hemd auf den Leib schneidern lässt, zahlt 185 Euro – mindestens. Trotzdem hat die Schneidermeisterin nicht nur finanzstarke ältere Kunden. „Gerade bei den 30- bis 35-Jährigen setzt sich immer mehr ein Qualitätsbewusstsein durch“, stellt die Inhaberin des seit 22 Jahren bestehenden Ateliers fest.
Bei Schuhen ist dieser Wandel schon seit einiger Zeit zu spüren. Edle Ware von Ludwig Reiter, Crockett & Jones oder Church's ist ein Erkennungszeichen für Leute mit gutem Geschmack. Natürlich sind diese Schuhe rahmengenäht und aus feinstem Leder. Das stammt, im besten Fall, vom Pferd. Der feinste Anzug nützt schließlich nichts, wenn darunter verschrumpelte schwarze Treter mit Gummisohle hervorgucken. Und wenn die Billigschuhe schon langsam auseinander fallen, sind die hochwertigen gerade erst eingelaufen – insofern relativiert sich ein Preis von 300 Euro oder mehr.
Doch was bringt es, wenn Hemd und Kleid zehn Jahre halten, man sich aber schon nach zwei Jahren am vertrauten Stück satt gesehen hat? Für diesen Fall hat Lederdesigner Rodan eine Lösung parat: „Natürlich arbeiten wir auch Kleidungsstücke so um, dass sie einen völlig neuen Charakter erhalten.“ Ein besonders geschicktes Spiel mit der Wandelbarkeit trieb der Berliner Designer mit seinem Millennium-Kleid. Im Dekolleté der edlen Abendrobe prangte als Blickfang die Zahl 2000. Der Clou: Die Endziffer Null ist austauschbar, das Kleid also auch 2009 noch aktuell. „Eine meiner Kundinnen hat sich die Jahreszahl später durch das Citroën-Symbol ersetzen lassen“, erzählt Rodan, „und glänzte damit auf dem Jahresball des Autoherstellers.“
Alles tragbar, alles erlaubt
Rodan setzt auch privat auf Redesign: „Alte Kleidungsstücke von meinem Vater habe ich aufgehoben, restauriert und umgearbeitet. Die trage ich heute in seinem Andenken.“ Auch die Klientel von Sabine Anton schätzt Tradition: „Es kommt immer häufiger vor, dass Kunden die Hemden ihrer Väter und Großväter bringen, um sie bei mir aufarbeiten zu lassen.“
So weit sind viele „Fashion-Victims“ noch nicht. Doch auch sie können in Sachen Wiederverwertung Gutes tun: Oxfam, eine große internationale Hilfsorganisation, betreibt in Deutschland 14 Secondhandläden, in denen gespendete Kleidung verkauft wird. „Den Erfolg unseres Konzepts kann man daran ablesen, dass wir jedes Jahr drei bis vier neue Shops eröffnen“, sagt Sprecher Jörn Kalinski. Mit dem Gewinn, den eine noch tragbare Lederjacke erzielt, kann in ärmeren Ländern zum Beispiel eine Nähmaschine angeschafft und damit die Existenz einer Familie gesichert werden. Der Schrank wird entlastet – ein bisschen auch das Gewissen.
Secondhandmode kommt heute ja nicht mehr zwangsläufig abgetragen und mit Mottenkugelduft daher. Ob ehemals teure Designerstücke aus den Sechzigern und Siebzigern im hippen Retro-Look oder Redesign aus Altbeständen – getragene Stücke erobern inzwischen sogar den Laufsteg. „Das strenge Modediktat hat ausgedient“, erklärt Rodan. „Heute ist fast alles tragbar und erlaubt, Individualität ist gefragt.“
Das bewies vergangenes Jahr auch eine Pariser Modenschau mit dem Titel „Deuxième Main“ – zweite Hand. An die hundert Modeschöpfer, darunter renommierte Häuser wie Chanel und Christian Lacroix, hatten Secondhandware als Rohmaterial für neue Kreationen genutzt. Die Modenschau fand in Zusammenarbeit mit der karitativen Organisation „Secours Populaire“ statt. Die Erlöse kamen einer Modewerkstatt zugute, die unter anderem warme Bekleidung für Obdachlose herstellt.
Auch die Berliner Galeries Lafayette machen beim mildtätigen Gebrauchtwarenhandel mit: Im Mai dieses Jahres konnte man dort von deutschen und französischen Designern aufgepeppte und veredelte Secondhandkleidung erstehen. Ein Teil der Gelder floss in Hilfsprojekte für Afrika. Der zurzeit angesagte Vintage-Look – Kleidung, die, obwohl fabrikneu, wie gebraucht aussieht, erfährt durch solche Experimente neue Variationen.
Marken suggerieren Erfolg
Erschwert wird der Umdenkprozess in Sachen Mode freilich durch die Werbung. Die spielt gekonnt mit dem, was Roman von Meinhold von der Pädagogischen Hochschule Weingarten mit seiner Begriffsschöpfung „Metagut“ verbindet: „Konsumgüter werden mit einer Metabedeutung, etwa Freiheit oder Abenteuer, aufgeladen“, so der Wissenschaftler, dessen Buch „Der Modemythos“ Ende des Jahres auf den Markt kommt. „Die Funktionalität spielt bei der Kopplung von Konsumprodukt und Metagut, wenn überhaupt, dann nur noch eine untergeordnete Rolle.“ Das Zauberwort dabei heißt: Emotionalisierung. Dem Träger der richtigen Jeans verfällt selbst die attraktivste Frau. Sportschuhe einer bestimmten Marke versprechen neben Spitzenleistung auch Leadership in der eigenen Clique. Firmen, denen solche Verknüpfungen gelingen, haben es geschafft.
„Es wird Zeit, dass wir uns von den Vorgaben der Werbung und Modeindustrie nach Schnelllebigkeit und rasantem Wechsel lossagen“, fordert Designer Daniel Rodan. „Qualitätskleidung braucht auch eine gewisse Patina, und im Idealfall wandelt sie sich ebenso wie ihr Träger. Sie reift wie das eigene Bewusstsein oder ein edler Wein.“
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