SPIEGEL ONLINE - 26. November 2003, 13:03
URL: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,275671,00.html Aids-Epidemie
Drei Millionen Tote in einem Jahr
Die Aids-Epidemie droht nach Angaben der Vereinten Nationen außer Kontrolle zu geraten. Die Zahl der Aidstoten ist in diesem Jahr um zehn Prozent auf weltweit drei Millionen gestiegen, fünf Millionen Menschen haben sich mit dem tödlichen Virus infiziert.
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Aidskrankes Baby in Südafrika: Die Epidemie greift weiter um sich |
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"Die derzeitigen Gegenmaßnahmen sind vollkommen ungenügend", sagte Peter Piot, Direktor des UNAIDS-Programms der Vereinten Nationen, in London. "Die Epidemie gerät außer Kontrolle." Im Jahr 2003 verzeichnete die Organisation die höchste Infizierten- und Todesrate seit Ausbruch der Epidemie vor rund 20 Jahren. Weltweit sind dem Bericht zufolge rund 40 Millionen Menschen an Aids erkrankt oder mit dem HI-Virus infiziert. Allein Afrika hatte seit Jahresbeginn rund 2,3 Millionen Tote zu beklagen. Für den drastischen Anstieg der Opferzahlen ist allerdings nicht allein Afrika verantwortlich, wie Piot betonte: In manchen Regionen, insbesondere südlich der Sahara, stagniere die Zahl der neuen Infektionen - auch wenn das nur in seltenen Fällen, wie etwa in Uganda, wirkungsvoller Prävention zu verdanken sei. Meist verhindere nur die enorme Sterberate eine weitere Ausbreitung der Epidemie.
Rasante Ausbreitung in Asien und Osteuropa
In anderen Regionen fällt die Seuche dagegen auf weit fruchtbareren Boden und bedrohe eine ganze Reihe neuer Länder wie China, Indonesien, Russland und mehrere osteuropäische Staaten. "Aids ist kein afrikanisches Problem mehr", sagte Piot. "Es ist zu einer globalen Epidemie geworden." China etwa stehe mit etwa 1,5 Millionen HIV-Infizierten erst am Beginn der Seuche. "Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Infektionen in China Jahr für Jahr um 30 Prozent gestiegen."
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Aidskranke in Thailand: "Globale Epidemie" |
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Die Auswirkungen der globalen Epidemie seien bei weitem noch nicht abzusehen, sagte Monika Luder, Sprecherin des "Aktionsbündnisses gegen Aids". Zur Bekämpfung von Aids seien jährlich zehn Milliarden US-Dollar notwendig. Die Weltgemeinschaft investiere derzeit nur 4,7 Milliarden US-Dollar pro Jahr in Prävention und Therapie von Aids. Das vor rund eineinhalb Jahren gegründete Aktionsbündnis forderte von der Bundesregierung deshalb zusätzliche 350 Millionen Euro jährlich. Das Entwicklungsministerium stelle pro Jahr eigenen Angaben zufolge 300 Millionen Euro für die Aids-Bekämpfung bereit, sagte Luder. Sie kritisierte, dass diese Gelder auch zur Eindämmung und Behandlung von Geschlechtskrankheiten verwendet würden. Elf Millionen Aids-Waisen in Afrika
Die Zahl der neuen HIV-Infektionen in Deutschland ist nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) in den vergangenen Jahren weitgehend konstant geblieben. Für das Jahr 2002 rechnete das Institut mit einer Zunahme um 2000 Infizierte, darunter rund 500 Frauen. Insgesamt waren nach RKI-Angaben in Deutschland bis Ende 2002 etwa 30.000 Männer, 9000 Frauen und knapp 400 Kinder HIV-positiv. Etwa 5000 der Infizierten waren an Aids erkrankt.
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) wies unterdessen auf die katastrophale Lage afrikanischer Kinder hin, die durch Aids ihre Eltern verloren haben. Die Zahl von heute elf Millionen Aids-Waisen werde sich bis 2010 auf 20 Millionen nahezu verdoppeln, erklärte Stephen Lewis, Uno-Sonderbeauftragter für Aids in Afrika, am Mittwoch in Berlin. "Wenn das keine Katastrophe ist, was sonst?"
Unicef stellte anlässlich des Welt-Aids-Tags am kommenden Montag die Ergebnisse der Studie "Afrikas verwaiste Generationen" vor. In Botswana, Lesotho und Swasiland, wo heute über 30 Prozent der Bevölkerung mit HIV infiziert sind, wird danach in den kommenden Jahren nahezu jedes fünfte Kind einen oder beide Elternteile verlieren. Das Kinderhilfswerk kritisierte, dass bis heute nur sechs der 40 besonders von der Immunschwächekrankheit betroffenen Staaten offizielle Hilfsprogramme zum Schutz und zur Hilfe für Aids-Waisen entwickelt haben.
Kinder enden in der Prostitution
Der Geschäftsführer von Unicef Deutschland, Dietrich Garlichs, sagte, das Ausmaß der Krise überfordere die traditionelle Solidargemeinschaft aus Verwandten und Dorfgemeinschaft. "Die größte Last tragen normalerweise die Großeltern." Häufig würden die Kinder zu immer weiter entfernten Verwandten durchgereicht. Immer mehr würden Straßenkinder. Viele müssten die Schule abbrechen.
Waisenkinder landeten besonders häufig in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen in Haushalten, Steinbrüchen oder Bordellen, berichtete Garlichs. Eine Studie in Sambia 2002 habe ergeben, dass fast drei Viertel der jugendlichen Prostituierten Waisen gewesen seien. Sie verdienten 0,63 bis sieben US-Dollar am Tag und mussten dafür im Schnitt mit drei bis vier Kunden täglich verkehren. Die Lage der Aids-Waisen sei eine "riesige menschliche, soziale und wirtschaftliche Katastrophe".