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Hier noch ein längerer Artikel betr. Wallstreet
Las Vegas der Finanzwelt
Die Zahl der Skandale nimmt stetig zu, der Dollarkurs laufend ab. Doch Wall Street bringt auch das nicht aus dem Takt. Immer raffinierter sogar arbeitet die grösste Geldmaschine der Welt. Und die Versuchung, sich von dem riesigen Geld ein paar Dollars abzuzweigen, ist für die Händler trotz strengeren Kontrollen so gross wie eh und je. Von Daniel Kroh
Kinderstimmen singen Weihnachtslieder, und im Hintergrund leuchtet ein Christbaum in der Grösse eines Wohnblocks. Die TV-Männer von CNN, CNBC und Fox News haben ihre Kameras in Position gebracht, stehen zusammen und wärmen sich die Hände an den heissen Kaffeebechern. Es ist Montagnachmittag, halb vier. Auf der andern Seite des Metallzauns, welcher die Szenerie vom Publikum abschirmt, stehen Japaner mit ihren Digitalkameras, die sie in die Höhe heben, um über die Köpfe der vielen Sicherheitsbeamten hinweg etwas Atmosphäre festzuhalten. Null Grad, leichter Schneefall und ein eisiger Wind, der durch die Strasse des grossen Geldes fegt.
Steve hatte bis vorhin einen guten Tag. Seine fünf Millionen «Dollar-Swiss-Position», die er über Nacht hielt, sind zu einem höheren Kurs in Singapur ausgeführt worden. Tagsüber verhielt sich der Markt ziemlich ruhig, Steve konnte seinen Gewinn mit kurzfristigen Short-Positionen noch steigern, und er freute sich darauf, etwas früher aus dem Büro zu gehen, um seinem zweijährigen Sohn den grossen gelben Truck zu kaufen, den er sich zu Weihnachten wünscht.
Jetzt lehnt sich der bald vierzigjährige Devisenhändler in seinem Bürostuhl in der 35. Etage eines dieser Wolkenkratzer an der Madison Avenue mit der wunderbaren Weitsicht über Downtown Manhattan zurück. Doch die gemütliche Lage täuscht, seine Hände umklammern die Stuhllehnen, und sein Blick ist konzentriert auf den Bildschirm vor ihm gerichtet. Seine Swiss-Position liegt im Argen, und das monotone «ninety-ninetytwo», das aus dem Tischlautsprecher krächzt, macht seine Laune auch nicht wieder besser. Das Christmas-Shopping für seinen Buben hat sich Steve abgeschminkt.
Wall Street heisst die Strasse, wo die Weihnachtslieder aus den Kinderkehlen erklingen. Sie ist ein paar hundert Meter lang, eng, lärmig und fast zu jeder Tageszeit im Schatten. Steht man ganz unten an einem Ende, am Ufer des East River von Manhattan, und blickt hinauf, sieht man die Trinity Church, scheinbar zerdrückt von gläsernen und stählernen Bürotürmen. Kurz davor, auf der rechten Strassenseite, steht eine grosse Statue von George Washington, der hier vor über zweihundert Jahren als erster Präsident Amerikas vereidigt wurde. Mit der Hand weist die Bronzefigur schräg auf die gegenüberliegende Strassenseite, auf den Eingang des Gebäudes mit der Nummer 20, Wall Street, den Sitz der NYSE, der New York Stock Exchange, der Börse New Yorks, Amerikas und der Welt.
Singen fürs Image
Steve ist bei zehn fünfundzwanzig «long», das heisst, er oder besser: die Bank, für die er arbeitet, besitzt 25 Millionen Dollar zum Kurs von 1.2910, schuldet also gleichzeitig 32,275 Millionen Schweizerfranken. Nichts Aussergewöhnliches, als «Dollar-Schweiz-Händler» einer der grössten Banken der Welt kauft und verkauft Steve täglich zwei bis drei Milliarden Dollar.
Vor wenigen Minuten sind auf dem Reuters-Newsticker die neusten Wirtschaftsdaten aus Washington erschienen. Die Arbeitslosenzahlen sind auf einem neuen Tiefststand, die Produktionszahlen sind gegenüber dem Vormonat gestiegen. Trotzdem hilft das kaum gegen den anhaltenden Abwärtstrend des Dollars. Nach ein paar schnellen Gewinnmitnahmen sackt der Kurs wieder zusammen. Im Moment steht er gegenüber dem Schweizerfranken bei 1.2890. Würde Steve seine Position bei diesem Kurs ausgleichen, dann bekäme er für seine 25 Millionen Dollar 50 000 Schweizerfranken weniger. Der Gewinn, den er über Nacht und im Verlauf des Tages «erarbeitet» hat, wäre dahin. Um in das Gebäude der NYSE hineinzukommen, wird man gleich mehrmals von Sicherheitsbeamten überprüft und wie beim Flughafen-Check-in durchleuchtet.
Seit dem 11. September 2001 dürfen Touristen die New Yorker Börse nicht mehr besuchen. Vorher waren es sieben Millionen jährlich. Jetzt übertragen 28 Fernsehstationen zum Teil live das Geschehen aus den fünf grossen Händlerräumen. Andere Medien werden nur dann zugelassen, wenn sie die öffentliche Wahrnehmung der Börse positiv beeinflussen könnten, zum Beispiel, wenn das Medium selbst einem der 2800 Unternehmen gehört, die auf der Liste der NYSE stehen und gehandelt werden.
Positive Publicity kann die Börse dringend brauchen, seit ihr vormaliger Chef diesen Sommer mit Bezügen von über hundert Millionen Dollar negative Schlagzeilen produzierte, seit die Börsenaufsicht (SEC) Händler von Pensionskassenfonds dabei überführte, wie sie von Millionen Amerikanern für einen angenehmen Lebensabend angelegtes Geld verspekulierten, seit sogar Investmentbanker in Handschellen und vor laufenden Kameras aus den Büros geholt worden sind, weil sie Gewinne in falsche Kassen schaufelten.
Auch wenn diese Fälle nicht alle mit der Börse zu tun haben, längst sind die Bilder der dreitausend Broker in den farbigen Jacken weltweit zum Inbegriff des amerikanischen Selbstverständnisses des Aktienhandels geworden - und zur Zielscheibe jeder Grundsatzkritik an der Geldmaschine Wall Street. Deshalb jetzt, zur sanften Imagekorrektur, die singenden Kinder und die Wohltätigkeitsparty, wo Wall Streets Geld für einmal an Hilfswerke fliessen soll.
Viertel vor vier, noch 15 Minuten bis zum Tagesschluss. Der Dow Jones Industrial Index steht bei 9940 Punkten. Schafft er es heute, nach vierzehn Monaten, endlich wieder über die Zehntausender-Marke? Broker rennen mit ihren E-Books von einem Ring zum andern, handeln Aktien im Auftrag ihrer Kunden, die ihre Kauf- und Verkaufsbefehle elektronisch oder über die Kopfhörer der Männer erlassen. Gedränge herrscht vor den Spezialisten, welche die «heissen» Titel des Tages betreuen. Cisco ist der Shootingstar der Stunde, Iveco fällt tief an diesem Tag, IBM macht Boden gut. Trotz immenser Elektronik, Tausenden von Computern und elektronisch abgewickelten Geschäften, unzähligen Fernsehkameras und riesigen Leuchtbändern, welche eine unendliche Zahlenreihe in rasanter Geschwindigkeit den Wänden entlangtransportieren, sind laute Stimmen zu hören, zum Teil wird sogar geschrien. Technologie ersetzt auch an der Börse im 21. Jahrhundert viel, aber nicht alles. Die psychologische Barriere von 10 000 Punkten beim Dow-Jones-Index, die zu überwinden symbolische Wirkung hätte, oder die Tatsache, dass gegen Jahresende viele Investoren zur Sicherung des Jahresabschlusses frühzeitige Gewinne realisieren, passt noch nicht in die Logik von Computerchips. Ganz zu schweigen von den vielen Taktiken, die ein Broker anwenden muss, um ein paar Sekunden schneller den bestmöglichen Preis für seinen Kunden zu erhalten.
Das grosse Geheimnis
Unlogisch ist für Steve angesichts des positiven Wirtschaftsklimas in den USA der tiefe Dollarkurs. Wieso behält er seine 25 Millionen denn nicht einfach und verkauft sie, wenn der Kurs wieder höher ist? In dieser simplen Frage liegt das Geheimnis des Devisenhandels verborgen. Niemand kann mit Sicherheit sagen, dass der Kurs wieder steigt - auch wenn er in der Regel immer wieder steigt. Und ein weiteres Absinken könnte den Verlust sehr schnell ins Unermessliche treiben. Deshalb kaufen und verkaufen Händler Millionen von Dollars gegen Fremdwährungen, um ein bis zwei Punkte an der vierten Stelle hinter dem Komma zu schinden. Und deshalb sind die Volumen so gigantisch: 1400 Milliarden werden von den rund ein Dutzend weltweit grössten Banken, die alle in New York einen Händlerraum unterhalten, täglich umgesetzt. Steve schaut gebannt auf den Schirm, wo laufend Kurse anderer Währungen, Metallpreise, Optionsindizes und andere Indikatoren aufblinken. Er überlegt sich, ob er 25 weitere Millionen dazukaufen soll, das würde seinen Einstandspreis senken, aber das Verlustrisiko verdoppeln. Auch die Bonusgespräche von nächster Woche mit seinem Chef schiessen ihm durch den Kopf, schliesslich ist er als Händler an Budgetziele gebunden. «Given at ninety.» Der Kurs bricht noch ein Stück ein.
Um vier Uhr ertönt die berühmte Glocke, die jeweils von einem Prominenten oder einem Geschäftsführer einer börsenkotierten Firma medienwirksam betätigt wird, und der Handel wird eingestellt. 1,2 Milliarden Aktien haben an diesem Tag den Eigentümer gewechselt, rein theoretisch. Praktisch wurden viele Käufe und Verkäufe zu Spekulationszwecken ausgeführt, und per Saldo wechselt nichts den Eigentümer. «Background noise» nennen die Händler dieses Phänomen, das etwa 80 Prozent des Gesamtvolumens generiert. Schon Minuten später strömen die ersten Broker aus dem mit der US-Flagge geschmückten Gebäude. Der Gesang der Kinder wird lauter, doch zum Zuhören haben die Männer in den rassigen Anzügen und mit den flatternden Krawatten keine Zeit. Zielstrebig eilen sie den Bankgebäuden entlang die Wall Street hinunter, Richtung Metro - oder in eine der umliegenden Bars.
Wall Street ist längst nicht mehr nur eine Strasse in Downtown Manhattan oder der Sitz der New York Stock Exchange. Wall Street, das sind auch die grossen Investmentbanken des Big Apple mit ihren Zehntausenden von Angestellten, den Starökonomen, die die Welt beständig beurteilen und mit ihren Analysen den Rhythmus und den Trend einer Aktie, eines Fonds oder einer nationalen Ökonomie vorgeben. Wall Street ist ebenfalls eine mediale Macht, die jedes Geräusch im Vorzimmer eines Konzernchefs zur nationalen Sache erklärt. Denn News bringen Bewegung in Märkte, und Bewegungen verschieben Volumen, und bewegte Volumen sind Möglichkeiten für Broker und Banker, an der Verschiebung etwas zu verdienen. Wall Street schliesslich ist überall, denn achtzig Millionen Amerikaner besitzen nicht nur Aktien, sondern handeln ständig mit ihnen, zum Beispiel im Internet. Dass Banken sogar Hobby-Spekulanten für eine Bareinlage den siebzehnfachen Wert zum Zocken zur Verfügung stellen, erstaunt in diesem Licht nicht weiter.
Im «Bull Run», ein paar Blocks von der NYSE entfernt, ist Happy Hour. Das Lokal ist voll. An der Bar stehen ausschliesslich Männer zwischen dreissig und vierzig in Anzügen. In der Hand ein «Light Beer» oder einen «Vodka Cranberry», in den Augen ein Glitzern. Der Dow Jones schaffte die Zehntausender-Marke zwar noch nicht, doch das Volumen war seit langem wieder einmal sehr hoch, die Broker sind somit zufrieden mit sich und der Welt.
«Masters of the Universe»
«Und dann nahm ich Larry zuerst einmal zehntausend IBM ab, damit er meinte, ich kaufe.» Greg steht vor ein paar Kollegen an der Bar und redet ziemlich laut. «Larry kommt also zu mir und fragt mich, ob ich etwas im Schilde führe, doch ich streue ganz cool das Gerücht, eine bahnbrechende Innovation zeichne sich ab, er wollte wissen, wie gut die Information ist, und ich kaufte ihm zum Beweis noch einmal zehn ab. Das reichte. Larry ging zum Spezialisten, deckte sich ein und trieb den Preis. Fünf Punkte weiter oben begann ich meine Babys zu verkaufen. Dreissig Riesen habe ich gemacht.»
«Great trade, Greg.»
«Masters of the Universe» werden sie respektvoll von der eigenen Gilde genannt, die Börsenhändler, die auf das eigene Konto nicht nur Gebühren, sondern auch Gewinnmargen karren und sich mit der Limousine zur Arbeit fahren lassen. Extravaganz gehört zum Geschäft und zum Selbstverständnis, zu den besten «money makers» der Welt zu zählen.
Devisenhändler beziehen Saläre, die aus der Show- oder Sportwelt stammen könnten, damit sie nicht in Versuchung geraten, privat mitzuverdienen. Dieser Versuchung ist jeder Händler ausgesetzt. Der Bericht des FBI über den Betrügerring, der vor vierzehn Tagen aufgeflogen ist, der sich wie ein Kapitel aus «Der Pate» liest, zeigt auf, dass auch bestandene Händler kippen: Es ist nur eine Frage der Summe. Männer mit Namen wie Capuano, Dinapoli, Viggiano, O'Rourke oder Napoletano parken ihre schwarzen Mercedes vor Nobelrestaurants, treffen sich im Kaminzimmer mit Gästen zwischen Dessert und Cognac, schieben Couverts über den Tisch und klopfen sich freundschaftlich auf die Schultern. Auch das ist Wall Street.
Steve schüttelt den Kopf, wenn er an seine Jahre als junger Händler zurückdenkt. «Es macht dich einfach verrückt, wenn Hunderte Millionen durch deine Finger laufen und du spürst, wie sich der Markt auf deinen Tastendruck hin bewegt.» Trotz einer gewissen Distanziertheit gegenüber dieser verrückten Welt hat ihn die Sucht, am grossen Monopoly mitzumachen, immer noch. Der Dollar bricht weiter ein. Steve wählt am Computer eine Bank an, verlangt einen Preis für «Swiss».
«78 80.»
«At 1.2878 25 Mio.»
«Done.»
«Thks and nice eve, bi.»
Mit diesen vier Zeilen ist das Geschäft auch vertraglich beschlossene Sache. Steve schaltet den Monitor ab, packt seinen Mantel und den Schal und geht nach Hause. Auf dem Heimweg fährt er beim Schaufenster mit dem gelben Truck vorbei. Am nächsten Tag, wenn er um sechs Uhr ins Büro kommen wird, handelt Wall Street den Dollar gegen Schweizerfranken schon wieder einen halben Rappen teurer.
so 'long' tinti
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