Glockenläuten verboten
Holger Nollmann ist für die nächsten sechs Jahre als Pfarrer der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei nach Istanbul gekommen, inoffiziell. Offiziell muss er als deutscher Botschaftsangehöriger arbeiten, denn nach dem türkischen Gesetz ist ausländischen Geistlichen jede Tätigkeit im Land verboten. Die Kirche darf es als »Körperschaft des öffentlichen Rechtes« nicht geben, sondern nur als »nicht-muslimische Stiftung«. Die Glocken werden aber geläutet, auch wenn es dazu keine offizielle Erlaubnis gibt.
Zwischen dem, was Gesetz ist, und dem, was toleriert wird, gab es in der Türkei immer schon einen großen Auslegungs-Spielraum. »Ursprünglich hatte der Gründer der modernen Türkei, Kemal Attatürk, den Islam für den Niedergang des osmanischen Reiches verantwortlich gemacht. Die Gründungsgesetze richteten sich gegen die muslimischen Orden und die Moscheen. Erst in der Folgezeit wurden diese Gesetze von den kemalistischen Beamten zunehmend gegen die Christen angewandt. Während Moscheen illegal unter den Augen der Behörden gebaut und nachträglich anerkannt wurden, unterliegen die Kirchen in der Türkei bis heute einem Bauverbot«, erklärt der evangelische Pfarrer. Jede religiöse Propaganda auf Straßen und Plätzen ist strengstens untersagt. Ein christliches Straßenfest wäre trotz aller Interpretationsmöglichkeiten jenseits des geschriebenen Gesetzes undenkbar.
Sieben Kirchengemeinden haben sich zusammengetan, um den vielen Flüchtlingen in der Stadt, die vor allem aus dem Iran, Irak und aus Afrika stammen, Kleidung, finanzielle Unterstützung, Unterricht für die Kinder und Rechtsberatung zu bieten. Doch sie müssen aufpassen, dass ihnen dies nicht als öffentliches religiöses Engagement ausgelegt wird.
Schon die kirchliche Hilfe für die Erdbebenopfer vor vier Jahren brachte einigen Gemeinden den harschen Vorwurf ein, sie würden damit klammheimlich Mission betreiben. Auch jede öffentliche Debatte über die Diskriminierung der Minderheitenkirchen wird vermieden. Über den Völkermord an den Armeniern und Syrisch-Orthodoxen zu Beginn des Ersten Weltkrieges darf bis heute in den türkischen Medien nicht berichtet werden. Nach Paragraf 312 des türkischen Strafgesetzbuches droht demjenigen eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren, der öffentlich über den Völkermord in der Türkei spricht. Das Wort »Genozid« ist verboten.
Auch in den Schulen lernen die Schüler nichts über die Geschichte der Christen in der Türkei. In Istanbul war 1914 fast jeder zweite Einwohner ein Kirchenmitglied, heute liegt der Anteil der Christen in der Metropole bei weniger als einem Prozent. War vor 100 Jahren noch jeder fünfte Osmane in Kleinasien ein Christ, so ist der Anteil heute auf 0,3 Prozent gesunken, kaum mehr als 100.000 Gläubige.
Wenn sie auch im Straßenbild nicht auffallen, so sind sie doch bei den Behörden registriert. An der Ziffernfolge im Personalausweis kann jeder Polizist sofort erkennen, ob er gerade einen Christen kontrolliert oder nicht.
Kein Christ im Parlament
Hohe politische oder gesellschaftliche Ämter sind ihnen in der Regel verwehrt. Im Parlament gibt es keinen einzigen Christen. Und im allmächtigen türkischen Militär haben Christen erst recht nichts zu sagen.
Holger Nollmann beobachtet als EKD-Beauftragter für die Türkei möglichst genau die politische Lage und berät sich mit den anderen Minderheitenkirchen vor Ort. Die im November letzten Jahres gewählte Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung AKP unter ihrem Vorsitzenden Recep Erdogan hat ein neues Reformpaket mit mehr Meinungs- und Religionsfreiheit vorgelegt. Seitdem scheint sich die Lage für die Christen in der Türkei in Teilbereichen zu bessern, denn erstmals seit Bestehen der türkischen Republik ist ein eigener Immobilienerwerb für die Kirchen erlaubt.
Bald soll es möglich sein, dass sich auch junge christliche Gruppen mit einem positiven Rechtsbegriff versehen als »religiöse Gemeinschaften« gründen können. »Auch wenn das wenig erscheinen mag, für türkische Verhältnisse ist das ein noch nie da gewesener Schritt in Richtung eines Mehr an Minderheitenrechten«, sagt Holger Nollmann.
Wie die Mehrheit der türkischen Bevölkerung waren auch die meisten in Nollmanns Gemeinde gegen einen Irak-Krieg. Die begonnene Demokratisierung würde durch die Kriegslast gestoppt, befürchtet der Pfarrer. Doch ohne mehr Meinungs- und Religionsfreiheit wird ein EU-Beitritt der Türkei in weite Ferne rücken. Auf Drängen der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland wird im alljährlichen EU-Fortschrittsbericht, der die Situation der Kandidatenländer beschreibt, die Situation der christlichen Minderheit in der Türkei als zusätzliches Beitrittskriterium aufgeführt.
Holger Nollmann drängt zur Eile. Zwar müsse die türkische Gesellschaft noch enorme Leistungen und Anstrengungen in Richtung Demokratie erbringen. Doch müssten aus Brüssel auch positive Signale und nicht weitere Vertröstungen erfolgen. Denn nur die baldige Aufnahme und damit die westliche Bestätigung des jetzt eingeschlagenen Reformkurses der neuen türkischen Regierung könne den christlichen Kirchen in der Türkei eine Überlebenschance bieten. Exil-Armenier, -Syrer und -Griechen hätten dann vielleicht wieder einen Anreiz, in die Siedlungsgebiete ihrer Vorväter zurückzukehren.
Letztlich würde durch eine EU-Aufnahme auch ein humanitäres Problem gelöst, das in Deutschland kaum Beachtung findet. Deutsche Frauen, die mit Türken verheiratet sind, haben vor 40 oder noch mehr Jahren in Unkenntnis der rechtlichen Lage ihre deutsche Staatsbürgerschaft aufgeben. Längst nicht alle Ehen verliefen glücklich. »Diese Frauen kommen manchmal zu uns in die Gemeinde, weil sie in katastrophalen wirtschaftlichen und menschlichen Situationen leben. Sie können aber nicht zurückkehren. Weder der Petitionsausschuss des deutschen Bundestages noch einzelne Politiker konnten an dieser Rechtslage bislang etwas ändern«, mahnt der evangelische Pfarrer in Istanbul, Holger Nollmann. Türkei in weite Ferne rücken. Auf Drängen der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland wird im alljährlichen EU-Fortschrittsbericht, der die Situation der Kandidatenländer beschreibt, die Situation der christlichen Minderheit in der Türkei als zusätzliches Beitrittskriterium aufgeführt.
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