Verbrechen im Namen der Ehre – auch ein Thema in Deutschland Corinna Ter-Nedden setzt sich seit 18 Jahren für bedrohte Mädchen und Frauen ein und arbeitet in verschiedenen Projekten, auch auf europäischer Ebene, mit – wie z.B. einem schwedischen Aktionsprogramm, das sich gegen Ehrverbrechen wendet. Corinna Ter-Nedden erklärt, dass es die Kriseneinrichtung Papatya in Berlin schon seit einiger Zeit gibt – Ehrverbrechen sind also auch hier kein neues Phänomen. Papatya bietet Mädchen Schutz, die vor familiärer Gewalt fliehen. Diese Mädchen sind überwiegend türkischer Herkunft, es sind aber auch Mädchen anderer Herkunft darunter. Pro Jahr werden etwa 60-70 Mädchen im Alter von 13 bis 18 Jahren aufgenommen, in Einzelfällen auch ältere. Die Mitarbeiterinnen sind türkischer, deutscher und kurdischer Herkunft. Bisher hat Papatya über 1.200 Mädchen und junge Frauen betreut. Die Betreuung dauert im Durchschnitt etwa sechs Wochen. Dabei geht es v.a. darum, mit den Mädchen gemeinsam eine neue Lebensperspektive zu finden. Seit dem letzten Jahr gibt es auch eine Beratung im Internet. Im Unterschied zu Jordanien oder Pakistan können wir für Deutschland leider keine genauen Zahlen und Fakten angeben. Bei Papatya vermutet man aber, dass man nicht nur die schwerwiegenden Fälle zu sehen bekommt, sondern wahrscheinlich eher die Spitze eines Eisbergs mit Dunkelziffer. Seit dem letzten Jahr gibt es eine umfassende Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Gewaltsituation von Frauen mit Nebenerhebungen zu türkischen Frauen und zu Zwangsverheiratungen. Danach leben die Hälfte der befragten türkischen Frauen in arrangierten Ehen und 17% davon fühlten sich zur Heirat gezwungen. Das würde also anders ausgedrückt bedeuten, dass 85 von 1.000 Frauen zwangsverheiratet worden sind. Zu Ehrenmorden haben wir in Deutschland so gut wie keine Zahlen, jedoch hat man bei Papatya das Gefühl, dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt. Anhand von Zeitungsartikeln wurde mit Unterstützung von Terre des Femmes eine Fallsammlung erstellt, die als Broschüre erhältlich ist. Es wäre zu wünschen, dass wir so viele Daten und Analysen wie Dr. Jashan hätten, denn man kann nur dann wirksame Prävention betreiben, wenn man mehr über die Umstände und Motive der Taten weiß. In Großbritannien gibt es dazu bereits erhebliche Anstrengungen. Fallakten werden ausgewertet und die Umstände der Taten sowie Kooperationslücken zwischen verschiedenen Behörden untersucht. Auffällig in dieser Fallsammlung ist, dass Männer auch Opfer werden – nämlich dann, wenn sie eine Frau lieben, deren Familie die Beziehung nicht akzeptiert. Bei der Untersuchung von Ehrenmorden in Deutschland und in Europa insgesamt muss man immer auch bedenken, dass Täter importiert werden können und dann wieder ausreisen. Außerdem können natürlich auch Opfer leicht ins Ausland gebracht werden und dort spurlos verschwinden. Beim New Scotland Yard werden auch verstärkt Selbstmorde und Unfälle von jungen Frauen untersucht, weil in einigen Fällen die begründete Annahme besteht, dass es sich eigentlich um getarnte Morde handelt. Schon im Vorfeld von Morden, die ja nur die extremste Form sind, gibt es viele Formen von Gewalt gegen Frauen im Namen der Ehre – angefangen von Kontrolle, über Drohungen bis hin zu physischer Gewalt. Corinna Ter-Nedden verweist auf ein von der schwedischen Organisation Kvinno-Forum gerade neu veröffentlichtes Resourcebook against honour-related violence, das Berichte aus mehreren europäischen Ländern, u.a. auch aus Deutschland, enthält (im Internet einzusehen unter www.kvinnoforum.se/PDF/HRV2005.pdf). Um die Arbeit von Papatya an einem konkreten Beispiel vorzustellen, schildert sie den Fall eines 18-jährigen türkischen Mädchens, das von ihrem Vater bedroht und misshandelt wird und im letzten Jahr über eine Beratungsstelle zu Papatya kam. Dabei wird deutlich, mit welchen Schwierigkeiten die Kriseneinrichtung bei der Betreuung von gefährdeten Mädchen zu kämpfen hat. Der Schutz der Mädchen durch die Wahrung ihrer Anonymität und die Geheimhaltung ihres Aufenthaltsortes stellen eine große Herausforderung dar. Auch die Zusammenarbeit mit Behörden wie dem Jugendamt oder der Meldestelle verläuft nicht immer problemlos. Frau Ter-Nedden erklärt, dass ein Ehrenmord auch immer eine Art negative präventive Wirkung hat - also eine Botschaft an alle darstellt, die überlegen, sich aus Gewaltverhältnissen zu lösen oder ihren eigenen Lebensentwurf durchzusetzen. Das bedeutet, dass die Mädchen, die zu Papatya kommen sehr viel Angst haben - aber gleichzeitig auch sehr mutig sind. Dieser Mut ist meist ein Mut der Verzweiflung, weil sie so nicht weiterleben können. 20% der Mädchen erzählen, dass sie bereits Suizidversuche hinter sich haben. Meistens haben die Mädchen auch massive Schuldgefühle und große Angst, ihre Familien zu verletzen - und die Familien tun dann natürlich auch alles dafür, um diese Schuldgefühle zu verstärken. Bei der Beratung im Internet oder am Telefon geht es meist ganz zentral um die Frage Wie kann ich mein eigenes Leben leben, ohne meine Familie zu verletzen? Und das ist eben oft ein unlösbares Problem. Die Erfahrung von Papatya zeigt, dass die betroffenen Familien oft mit Problemen wie Langzeitarbeitslosigkeit, schlechten finanziellen Bedingungen, Alkoholismus oder Scheidungen und Trennungen zu kämpfen haben. Man nimmt daher an, dass traditionelle Regeln unter Bedingungen von gesellschaftlicher Marginalisierung und dann auch noch mal besonders in der Migration eine Renaissance erleben. Wenn die Männer Angst haben, an den Rand gedrängt zu werden - durch Machtverlust, Identitätsverlust oder Männlichkeitsverlust - dann können Ehrenmorde wahrscheinlicher werden. Bei der Frage der Ehre geht es nicht nur um weibliche Sexualität, sondern es kann auch eine Ehrverletzung sein, wenn man gegen die Regeln der Respektspyramide verstößt, die besagt, dass Frauen unter Männern stehen, Junge unter Alten... - und wer dagegen rebelliert und ungehorsam ist, auch der verstößt gegen die Ehre und provoziert damit Sanktionen. Besonderheiten von häuslicher Gewalt im Namen der Ehre - Beziehung zwischen Opfer und Täter: größerer Täterkreis (Brüder, Väter etc.) und größerer Opferkreis (Töchter, Mütter, Schwestern, Cousinen usw.) - Von der Ehrverletzung fühlen sich viele betroffen; sie wird nicht individuell wahrgenommen, sondern kollektiv - Gefährdung kann über Jahre bestehen bleiben - Kein Unrechtsbewusstsein, das betrifft auch die Umgebung des Täters – sondern sogar Unterstützung - Kollektiver Druck der Gemeinschaft - Mädchen können ins Ausland gebracht werden und so von jeder Hilfe abgeschnitten werden Situation in Deutschland - Direkter Schutz ist wichtig. In Deutschland gibt es eine Handvoll Schutzeinrichtungen, was in Europa schon absolut führend ist. - Frauenhäuser sind von massiven Kürzungen betroffen. - Sog. "Importbräute" sind besonders gefährdet, da sie nur schwer zu erreichen sind. - Junge Volljährige sind ein besonderer Fall, da sie nicht unter das Kinder- und Jugendhilfegesetz fallen. Diese Mädchen müssen trotzdem noch von den Jugendämtern betreut werden und dürfen nicht an die Frauenhäuser oder in die Sozialhilfe abgeschoben werden. - Anonymität ist ein Problem. Sich als Person zu verstecken ist schon schwierig - bürokratisch zu "verschwinden" ist fast unmöglich.
http://www.frauenrechte.de/tdf//pdf/Fachtagung_Dokumentation_2005.pdf Gruß BarCode
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