Hört auf, zu pauschalisieren
Thilo Mischke besucht Costa Rica, das Land ohne Militär. Dort denkt er über den Krieg in der Ukraine nach, über Offene Briefe und unerbittliche Debatten.
Die ehemalige Vizepräsidentin Costa Ricas sitzt mir gegenüber, trinkt Kaffee. Und eigentlich sollte das Interview jetzt beginnen, aber ich kann mich nicht konzentrieren, bin abgelenkt. Wir haben uns in ihrem Wohnhaus in San José getroffen, weil ich von ihr wissen wollte, wie es ist, in einem Land ohne Militär zu leben. Ein Land, das seit über 70 Jahren keine Armee mehr hat, keinen Militärdienst, keine Rüstungsindustrie. Mit Nachbarn, in denen es seit Jahrzehnten Unruhen und Revolutionen gibt: Nicaragua, El Salvador, Honduras, Panama. Krieg gehört zu Mittelamerika wie schöne Strände und zarte Gastfreundschaft. Bevor wir anfangen zu sprechen, lenken mich die Kolibris ab. Hinter ihr, insektengleiche Vögelchen, die mit ihren Schnäbeln zärtlich Hibiskusblüten abtasten. Ich höre die Stimme der Politikerin, aber nicht ihre Worte, will, dass einer dieser Kolibris mit seinen winzigen Füßchen auf meiner Hand Platz nimmt. Ich will lieber mit diesem Vogel spielen als ein Interview führen. „Können wir anfangen?“, fragt sie streng, streicht sich über den Rock und fixiert mein Gesicht. Wer pauschalisiert, macht sich schuldig Ich bin ins Ausland gefahren, um Gespräche über das zu führen, was in Deutschland mittlerweile eine vergiftete Debatte ist. Ich will verstehen, was Rüstung ist, wie dieses Geschäft mit den Waffen funktioniert und was den größeren Antrieb in einem Krieg darstellt: Waffen für den Frieden oder Wirtschaft für den Krieg. „Wer pauschalisiert, macht sich schuldig“, habe ich irgendwann mal in einem Text geschrieben, und ich muss an diesen Satz in den letzten Jahren immer wieder denken. Auch wenn es schmerzhaft ist: Nicht alle Corona-Leugner sind Nazis, nicht alle, die gegen diesen Krieg in der Ukraine sind, die sich gegen die Waffenlieferungen stellen, sind Putin-Versteher, nicht jeder, der links wählt, ist woke, und nicht jeder, der gendert, ist vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen beeinflusst.
Viele der Menschen, die meine Artikel für die Berliner Zeitung, meine Filme für ProSieben, meine Podcasts oder Bücher kommentieren, neigen zum Beleidigen. Würde ich diesen Menschen glauben, wäre ich ein links-grün-versiffter, lauterbachliebender Veganer, der Bäume küsst. Ich wäre in den Augen vieler Menschen ein verabscheuungswürdiger Mensch. Ein drogensüchtiger Idiot, der mal vom Leben lernen solle, einer, der Frauen vergewaltigt, misogyn durch die Welt schreitet, der wohl nicht von seiner Familie geliebt wurde, der „der einsamste Mensch“ der Welt sein sollte. Es sind alles Pauschalisierungen, die es einfacher machen sollen, die Welt zu verstehen, die den Lesern und Leserinnen im Internet es einfacher machen sollen, einen Lebenslauf, meinen Lebenslauf, zu verstehen. Haben wir verstanden, warum es diese Briefe gibt? Und darum geht es: Verstehen. Die Welt verstehen, heißt nicht, sie zu verurteilen. Sondern sich mit ihr auseinanderzusetzen. Offene Briefe fordern ungelenk die sofortige Beendigung der Kriege. Und das Internet schäumt über. Wir schäumen über. Aber haben wir verstanden, warum es diese Briefe gibt? Die Antwort auf die Frage, warum es diesen Krieg zwischen der westlichen Welt und Russland gibt, finden wir nicht, indem wir Waffen fordern oder Waffen abschaffen wollen. Wir finden sie vielleicht im Verständnis für das Handeln beider Seiten. So grausam das Handeln auch ist. Eine schmerzhafte Aufgabe, weil es bedeutet, Pauschalisierungen zu meiden.
Oft ist das Argument dann: „Aber bei Hitler-Deutschland würdest du das doch auch nicht machen, da warst du doch auch vom Bösen überzeugt“, und ich nicke dann, stimme zu. Aber auch nur, weil in den letzten 75 Jahren so viel analysiert, so viel verstanden wurde. Und weil eben nicht mehr pauschalisiert wird. Und oft sage ich dann: „Die Gegenwart mit der Vergangenheit zu vergleichen, ist eine dieser gefährlichen Pauschalisierungen.“ „Mr. Mischke“, fragt die Vizepräsidentin, und ich entschuldige mich: „Die Kolibris haben mich abgelenkt.“ „Warum gibt es kein Militär in Ihrem Land?“, frage ich. „Weil wir unter anderem das Schulfach Frieden eingeführt haben“, sagt sie. „Und was lernt man da?“ Sie räuspert sich. „Frieden verstehen“, sagt sie.
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/...endig-zu-pauschalisieren-li.255703
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