Was ist soziale Gerechtigkeit?
Analyse des DGB zu den Landtagswahlen 1999 (Auszug)
Es gibt in der Bevölkerung und auch bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern keine allseits akzeptierte Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. Je nach Berufsgruppen umfasst der Begriff Verteilungsgerechtigkeit oder Leistungsgerechtigkeit. Deswegen müssen politische Botschaften geklärt und konkretisiert werden.
Am häufigsten wird von den Menschen "Steuergerechtigkeit" genannt, wenn sie nach ihrem Verständnis von sozialer Gerechtigkeit gefragt werden. Kritisiert wird die geltende Abschreibungspraxis der Großkonzerne und Selbständigen, aber auch die Kompliziertheit des Steuersystems. Facharbeiterinnen und Facharbeiter (aus den Branchen Automobil, Stahl, Chemie, Elektroindustrie o.ä.) bringen häufig die Umverteilung von oben nach unten zur Sprache ("die Reichen sollten etwas abgeben"), aber auch eine gerechtere Behandlung von Familien. Jüngere Beschäftigte mit Zukunftsberufen (Grafiker, IT-Angestellte, Softwareentwickler, Public Relations etc.) stellen hinge- gen die Leistungsgerechtigkeit ("wenn ich Leistung bringe und davon auch was habe") in den Vordergrund. Beide Gruppen sind sich darüber einig, das soziale Gerechtigkeit auch eine gerechte Verteilung der Arbeit beinhaltet, und das Arbeitslosigkeit und der Missbrauch von öffentlichen Leistungen sozial ungerecht ist.
Eine Konkretisierung der Vorstellungen von "sozialer Gerechtigkeit" haben wir an Hand einiger Begriffe versucht herauszufinden, die zum Zeitpunkt der Untersuchung in der öffentlichen Debatte waren:
- "Gemeinnützige Arbeit für Arbeitslose". Die Meinungen sind hier gespalten. Es gibt diejenigen, die der Auffassung sind, die die Arbeitslosenversicherung vor allem als Versicherung begreifen, für die Beiträge eingezahlt worden sind, und deshalb wird gemeinnützige Arbeit für Arbeitslose als ungerecht abgelehnt. Es gibt aber auch diejenigen, die den Standpunkt vertreten: "Wenn ich etwas bekomme, muss ich auch etwas dafür tun!". Und das dies auch den Missbrauch von Geldern einschränken könne. Beide Standpunkte tendieren aber zu einer wichtigen Differenzierung: ältere Menschen, die ihr Leben lang in die Arbeitslosenversicherung Beiträge entrichtet hätten, sollten nicht zu gemeinnütziger Arbeit verpflichtet werden können. Hingegen sollten jüngere, die noch nicht viel einbezahlt haben, dazu verpflichtet werden können.
- "Einsteiger-Jobs". Insbesondere Facharbeiterinnen und Facharbeiter sind der Auffassung, das Berufsanfänger oder Arbeitslose durch Einsteiger-Jobs Berufserfahrung erhalten können bzw. der Gefahr entgegenwirken können, ihre Qualifikation zu verlieren. Allerdings muss dafür gesorgt werden, das die Arbeitgeber derartige Regelungen nicht ausnutzen, und zwei Klassen von Einkommen auf Dauer etablieren oder gar einen Niedriglohnsektor einführen. Die jüngeren, sehr gut Qualifizierten würden einen Einstiegstarif akzeptieren, weil sie annehmen, das sie durch Leistung und Kompetenz schnell eine höhere Einstufung erreichen.
Viele Menschen sind der Meinung, das die Menschen mehr Verantwortung übernehmen sollen – das zeigt sich besonders stark bei den jüngeren Arbeitnehmern in Zukunftsberufen, aber es deutet sich auch bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an, die in den "klassischen" Sektoren der Industriegesellschaft arbeiten. Dafür zwei Beispiele:
- Bei der Suche nach einem Arbeitsplatz müsse der Staat die Arbeitssuchenden aktiv unterstützen. Aber die Arbeitsuchenden müssen sich in Zukunft mehr Eigeninitiative bei der Suche nach einem neuen Job entwickeln. ("Es darf nicht alleine um das Geld gehen, wenn ich arbeitslos bin... Besser ist es, wenn ich vom Staat gefordert werde, Initiative zu ergreifen.")
- Große Einmütigkeit herrscht hinsichtlich der Meinung, das sich die Menschen selbst um eine zusätzliche Rentenversicherung kümmern sollten. Insbesondere jüngere Arbeitnehmer glauben nicht daran, das die Renten zukünftig sicher sind. Manche sprechen sich dafür aus, den langfristigen Generationenvertrag abzuschaffen, weil dieses System aus demographischen Gründen nicht mehr funktioniert. Die Ungerechtigkeit des bestehenden Rentensystems besteht darin, das aus der Rentenkasse Fremdleistungen finanziert worden seien. Der Vorschlag Arbeitsminister Riesters, die Renten in den kommenden zwei Jahren nur noch in Höhe der Inflationsrate anzupassen, um die Rentenkasse zu sanieren und Renten zukünftig zu sichern, gilt grundsätzlich als gerecht.
Wer soll für soziale Gerechtigkeit sorgen? In erster Linie die Politik, aber auch die Gewerkschaften. Jedoch kann die Politik nach Meinung vieler Arbeitnehmer, und zwar sowohl bei Facharbeitern wie Beschäftigten in modernen Berufen, diese Aufgabe nicht wahrnehmen, weil sie in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit die Wirtschaft "die politischen Richtlinien" bestimmt. Auch die Gewerkschaften sind nach Meinung vieler dazu nicht stark genug.
Das Bündnis für Arbeit wird in dieser Untersuchung nicht, bei keiner Arbeitnehmergruppe, als politischer Korrekturmechanismus zur starken Position der Arbeitgeber oder als Weg der politischen Gestaltung genannt. Nach Meinung der Facharbeiter sind Gewerkschaften zur Zeit zu passiv, aber sie "schauen sich nach neuen Lösungen um". In den Augen der Arbeitnehmer in den zukunftsorientierten Berufen dagegen sind die Gewerkschaften "unverzichtbar für die Arbeiterschaft", aber für sie selbst sind Gewerkschaften "nicht hilfreich".
Im Ruhrgebiet war die Einschätzung der Regierungsarbeit der letzten zehn Monate überwiegend negativ und zum Teil sehr emotional, im süddeutschen Raum war man dagegen auch nicht kritiklos, aber man beurteilte das Handeln der Bundesregierung deutlich positiver.
Insgesamt werden der Bundesregierung handwerkliche Fehler und eine schlechte Vermittlung ihrer politischen Inhalte vorgeworfen. Im Ruhrgebiet wird die Kritik an der neuen Bundesregierung härter formuliert als im süddeutschen Raum, hier betont man, das mit Blick auf einen Politikwechsel CDU und SPD programmatisch fast ununterscheidbar geworden sind ("Der Politikwechsel hat nicht stattgefunden"), dort vertritt man die Meinung, das ein Politikwechsel mit dem Vorzeichen sozialer Gerechtigkeit "durchaus stattgefunden" hat.
Aber weder im Westen noch im Süden sind die Rücknahmen der sozial- und beschäftigungspolitischen Verschlechterungen noch das Bündnisses für Arbeit in den Köpfen der Arbeitnehmer so gegenwärtig als das sie bei der Frage nach einem Politikwechsel spontan genannt worden wären.
Die Spielräume für eine Politik werden im Augenblick als eng beurteilt. Aus diesem Grund wird auch das Sparkonzept von der Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beider Gruppen als notwendige politische Maßnahme akzeptiert. Der Haushalt muss auch mit Blick auf künftige Generationen saniert werden, zum anderen glaubt man nicht daran, das eine Erhöhung der Kaufkraft Arbeitsplätze schafft.
Es gibt so etwas in der Wahrnehmung der Bevölkerung wie ein "Politik-Defizit". Dies hängt zum einen mit der medialen Vermittlung der Politik der neuen Bundesregierung und der am Bündnis für Arbeit Beteiligten zusammen. Wichtige Leistungen der neuen Bundesregierung sind den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht gegenwärtig, das Bündnis für Arbeit spielt im Alltag der Menschen keine Rolle.
Die mangelhafte Präsenz des Regierungshandelns hängt aber auch mit Zielsetzungen zusammen, die an Klarheit zu wünschen übrig lassen. Dies hängt nicht nur mit der fehlenden Zurechenbarkeit und Verläßlichkeit von Aussagen zusammen (einfache und verständliche Sprache, Standhaftigkeit von Aussagen), sondern auch damit, das eines der Leitbilder der neuen Bundesregierung, die soziale Gerechtigkeit, inhaltlich umstritten ist. Es gibt derzeit keine Norm von sozialer Gerechtigkeit, die von allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geteilt würde, im Gegenteil, die Meinungen und Erwartungen von Arbeitnehmern in den "klassischen" industriegesellschaftlichen Branchen und denjenigen in "modernen" informations- und dienstleistungsgesellschaftlichen Branchen liegen oft weit auseinander.
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