Bisher wurde Deutschland immer als "Täter" gesehen. Seit ein paar Jahren - nicht erst seit Eichungers Film - ändert sich das. Jetzt wird auch die Opferrolle diskutiert und historisch akzeptiert: Man erinnere sich an "Dresden", "Hamburg" und Dutzende andere deutsche Städte, an die Flucht und die Vertreibung aus Ostpreussen, Schlesien, Sudetenland, etc; an die Verbrechen gegen die Menschlichkeit russischer (und auch anderer) Truppen. Vor allem aber begreift man das Dritte Reich nicht mehr nur als singuläres Ereignis, sondern als Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung, die 1919, besser noch 1871 begonnen hat.
Die Briten sehen die Gefahr eines Zeitenwandels und einer Verharmlosung der deutschen (Täter-)Rolle bis hin zu vermeintlichen Anzeichen einer "Glorifizierung".
Wenn man das Dritte Reich in den Kontext des WKI und des Deutschland erniedrigenden Versailler Diktatfriedens (Clemeceau) stellt, kann man die Ereigneisse, vor allem aber auch den Stolz, den manche bis heute über die Jahre 33 - 45 empfinden, besser begreifen.
Und man vergesse dabei nicht Napoleon. Der liegt heute im Panthéon. Die Briten haben ein anderes historisches Bewußtsein als wir; sie denken in "Jahrhunderten".
Hier nochmal der FAZ-Artikel zum Täter/Opfer-Phänomen:
Ich Opfer, du Täter
Die neue Gefühlswelt der Erbarmer- und Anklägergesellschaft
Im Juli meldeten die französischen Medien, daß eine junge Frau, die allein mit ihrem Säugling in der Pariser Bahn saß, von einem Haufen Männer angegriffen und mit antisemitischen Parolen belästigt wurde. Der Aufruhr war groß, an den Pranger wurde die mangelnde Zivilcourage der Zeugen gestellt, gegen die wachsende Unsicherheit und den schleichenden Rassismus wurden die zu erwartenden Reden gehalten, auch eine Ermahnung von Staatspräsident Chirac fehlte nicht. Dieser mußte sich jedoch ein paar Tage später korrigieren: Die Geschichte hatte sich als durch und durch erfunden erwiesen. Nichts war passiert. Das angebliche Opfer gab zu, daß es bloß von sich reden machen wollte.
Seither beschäftigt der "Fall Marie L." das Pariser Feuilleton. Von der Frage ausgehend, wie jemand zu solch einer schäbigen Selbstinszenierung kommen kann (weniger stellt man die komplementäre Frage ihres überstürzten Aufbauschens seitens der Medien und der Politik), wird die Geschichte als Symptom der neuartigen gesellschaftlichen Stellung des Opferseins erklärt. Opfer haben Konjunktur. Seit diesem Jahr gibt es gar in Frankreich eine Staatssekretärin für Opferrechte. Obwohl die Regierung bei der Bildung des Postens die Klarstellung für nötig hielt, ihr gehe es nicht darum, eine "Republik der Opfer" einzurichten, sieht der Philosoph Frédéric Gros die Lage pessimistischer. Es sei eine "Demokratie der empfindlichen Subjekte" im Anbrechen, die allesamt in einem Punkt übereinstimmen: Kein Leid wird weiter toleriert. Notwendigerweise wird die Nullrisiko-Ideologie von einer institutionellen Veropferung (victimisation) begleitet.
Auch der Soziologe Lucien Kaprik beobachtet die neue Situation. Früher passiver Gegenstand eines schicksalhaften Unglücks, ist das Opfer heute ein aktives Subjekt, das einen öffentlichen Status, die Anerkennung der Medien und die Bestrafung der Verantwortlichen fordert. Zugleich hat sich das Spektrum erweitert. Nicht nur physische Übergriffe, sondern auch psychische Verletzungen führen zur Opferbildung. Ein Blick, ein Wort reichen schon, um die Integrität des empfindlichen Subjekts in Gefahr zu bringen. Gegen Mobber, Rassisten, Homophobe, behindertenfeindliche Wirte, Eltern, Raucher und Autofahrer setzt sich die jeweilige Lobby ein und fordert Konsequenzen. Dank dieser inflationären Anwendung des Begriffs kann schließlich jeder von sich behaupten, er sei irgendwie Opfer. Zumindest potentiell. "Insbesondere seit dem 11. September", so der Soziologe François de Singly, "wird in der kollektiven Phantasie die Wahrscheinlichkeit als immer größer empfunden, selbst Opfer einer Katastrophe zu werden."
Zugleich mit der Veropferung wächst das Erbarmen. Jede Unglücksnachricht ruft eine Welle des Mitleids hervor, die keineswegs altruistisch ist, sondern dem Kalkül entspringt: Wenn für die Opfer nichts getan wird, wird auch für mich nichts getan. Über die Ursachen des Phänomens sind die Kommentatoren trotz verschiedener Denkfärbungen gewissermaßen einig. Gut postmodern meint de Singly, daß mit der "großen Erzählung des Fortschritts" auch die heroischen Figuren verschwunden seien, mit denen man sich identifizieren konnte. Das Opfer ist das übriggebliebene Identifikationsmodell. Lady Di wird nicht wegen ihrer positiven Taten anhaltend verehrt, sondern als Madonna der Unglücksraben. Eher marxistisch weist der Historiker Georges Vigarello auf das Verwischen der Normen hin, die das traditionelle Weltbild strukturierten. So konnte früher ein Arbeitsunfall im Rahmen der Klassenverhältnisse verstanden werden und einen konkreten Betriebskampf auslösen. Heute findet sich der einzelne von Entscheidungen völlig ausgeschlossen, die sein Leben bestimmen (etwa durch den Import verseuchten Rindfleischs). Einer abstrakten Macht ausgeliefert, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in seiner Opferrolle einzurichten.
Ein Theologe, Olivier Abel, vermißt den tröstenden Überbau, der dem Unglück einen Sinn gab. Das Leid kann nicht mehr innerhalb einer Gemeinschaft geteilt und gelindert werden, daher schreit die vereinsamte Empfindung nach Aufmerksamkeit. Der philosophische Schluß des Ganzen wird von Michel Onfray gezogen: "Die Logik des Mitleids ruft eine binäre Anschauung der Realität hervor, entweder Opfer oder Täter. So wird die Welt vereinfacht. Man braucht nicht mehr weiterzudenken. Emotionen werden gegen Vernunft ausgespielt." Und die Emotionen rufen nach Vergeltung. Je mehr Opfer es gibt, desto mehr Täter gibt es, die verfolgt werden müssen. "Penalneid" nennt der Schriftsteller Philippe Muray den herrschenden Trieb der Epoche, einen unlöschbaren Durst nach Bestrafung.
Vorbei sind die Zeiten, als nach einem Zugunglück entweder das Schicksal beklagt wurde oder Arbeitsverhältnisse und Technik in Frage gestellt wurden. Heute wird menschliches Versagen festgestellt und der Lokomotivführer für schuldig erklärt. Zuweilen erinnert diese Entwicklung an die animistischen Kulturen Afrikas, wo jeder Todesfall auf eine böswillige Beschwörung aus dem Nachbardorf zurückgeführt wird. Neulich wollte in einer französischen Gemeinde niemand für die Lokalwahl kandidieren. Der letzte Bürgermeister hatte wegen Fahrlässigkeit eine hohe Geldstrafe zahlen müssen, weil ein Passant an einem stürmischen Abend einen Ast auf den Kopf gekriegt hatte.
Die Gier nach Schuldigen führt zu einer Pervertierung der Justiz: Theoretisch dient die Rechtsprechung der Allgemeinheit, doch, so Karpik, "in der Tat wird der Strafprozeß zunehmend als therapeutische Behandlung des Opfers geführt, um dessen Trauma zu beseitigen. So wird das Recht schleichend zu privaten Zwecken mißbraucht." Erwartungsgemäß werden die Medien von allen Kommentatoren zum Hauptagenten der Opferbeförderung erklärt. Reality-TV wird die Konstruktion einer Mythologie der Intimität zugeschrieben.
Nach dem Ende der großen Erzählungen versucht jeder, mit seiner kleinen Erzählung aufzufallen. Zur Selbstbehauptung sind keine positiven, herausragenden Errungenschaften vonnöten, sondern die Darstellung eines erlittenen Mißgeschicks. In der Fernsehshow verwandelt sich das Opfer zum Helden seiner Geschichte, durch die Erzählung wird es wieder Herr der Situation, die es erdulden mußte. Dabei ist die Konkurrenz groß. Wenn alle aus irgendeinem Grund Opfer sind, dann muß die Darstellung des eigenen Unglücks optimiert werden, um einen Anteil am Mitleid zu haben. Da sind wir wieder bei dem Fall Marie L. Im Konkurrenzkampf der Opfer hat die junge Frau eine gelungene Aufmerksamkeitsstrategie verfolgt. Ganz gleich, ob ihre Geschichte erfunden war, daß sie doch Opfer sei, kann sie immer noch behaupten. Der eigenen Einbildungskraft etwa. Oder abwegiger Gesellschaftszustände.
GUILLAUME PAOLI
Nach 1968 reichte es erst einmal, wenn man sich allgemein als Opfer des Imperialismus darstellen konnte. Heute ist eine stärkere Dosis gefragt: Mehr Dramatik muß in die Leidensgeschichten. Eine Gier nach Schuld greift um sich, nicht nur in Frankreich.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.08.2004, Nr. 202 / Seite 35
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